Das Rätsel
’ner Pistole und nicht mit dem Messer gemacht hat?«
»Weil nicht das Töten als solches ihm den Kick verschafft«, erklärte Jeffrey kalt. »Ich glaube, es ist ihm ziemlich egal, mit welcher Waffe er die jungen Frauen umbringt. Es geht ihm um den ganzen Akt. Das Kind zu stehlen und es zu besitzen, physisch, emotional und psychologisch, und sie anschließend an eine Stelle zu bringen, an der sie gefunden werden muss. Reizt es etwa einen Maler, ein Bild zu malen und es dann niemandem zu zeigen? Oder einen Autor, ein Buch zu schreiben und es dann keinem Menschen zum Lesen zu geben?«
Noch eine Frage kam ihm in den Sinn: Wie kann man in dieGeschichte eingehen, wenn so viele andere im Laufe so vieler Jahrhunderte mehr oder weniger auf dieselbe Weise in die Annalen eingegangen sind?
»Woher wollen Sie das wissen?«, wiederholte Martin mit Nachdruck seine Frage. »Wie können Sie so sicher sein?«
Ich weiß es eben,
sagte Jeffrey langsam in Gedanken.
Detective Martin blieb er eine Antwort schuldig.
Es war nach Mitternacht, als Martin Clayton mit den üblichen spätabendlichen Floskeln vor dem Gebäude der Bundesstaatsregierung absetzte: »Schlafen Sie erst mal ’ne Runde, morgen früh legen wir los.« Dann fuhr Martin weiter und ließ den Professor vor dem Betonklotz stehen. Die umliegenden Gebäude, die als Firmensitze dienten, waren über Nacht alle geschlossen und bis auf die eine oder andere Beleuchtung eines Logos dunkel. Die Parkplätze waren verwaist; aus der Ferne schimmerten die Lichter von New Washington herüber, doch selbst dieses Zeichen menschlicher Gegenwart ging in der Stille unter, die den Professor einhüllte. Er zog einmal heftig die Schultern hoch – teils gegen die Kälte, die ihm schon den ganzen Abend zugesetzt hatte, vor allem aber gegen das Gefühl der Isolation, das ihn überwältigte.
Er kehrte der Dunkelheit den Rücken und marschierte zügig durch die Tür des Regierungsgebäudes. In der Mitte der Eingangshalle befand sich eine Loge des Wachdienstes, die von einem einzigen Beamten in Uniform besetzt war. Sein Gesicht wurde hinter dem großen Schreibtisch vom bleichen Schimmer eines kleinen Fernsehmonitors erleuchtet. Er winkte Clayton zu.
»Spät geworden, wie?«, rief er, ohne eine Antwort zu erwarten. »Woll’n Sie hier bitte unterschreiben?«
»Wer gewinnt?«, fragte Jeffrey. Das Formular, das der Mannihm reichte, war leer. Keine anderen Besucher nach Büroschluss. Auf dem Blatt würde nur sein Name stehen.
»Gleichstand«, antwortete der Mann. Er verriet ihm nicht, wer gegen wen spielte, sondern wandte sich, nachdem er das Klemmbrett wieder an sich genommen hatte, erneut dem Bildschirm zu.
Jeffrey überlegte einen Moment, ob er sich mit dem Mann ein wenig unterhalten sollte, taxierte dann aber den Grad seiner Erschöpfung und kam zu dem Schluss, dass er – egal wie einsam er sich fühlte – lieber ein paar Stunden schlafen sollte, als die Meinung des Wachmanns über Sport, Dienst und das Leben im Allgemeinen zu erfahren. Er schlurfte zum Fahrstuhl, stieg auf dem Geschoss mit seinem Büro aus und ging langsam den leeren Flur entlang, in dem seine Schritte widerhallten.
Er legte die Hand auf das elektronische Sicherheitsschloss, und die Tür sprang mit einem dumpfen Klicken auf. Jeffrey trat ein, um sofort in das angrenzende Schlafzimmer weiterzugehen und nach allem, was er an diesem Tag gesehen und gehört hatte und was er zu wissen glaubte, einen klaren Kopf zu bekommen. Er nahm sich vor, vieles davon schriftlich festzuhalten; es war wichtig, seine Beobachtungen und Überlegungen in einer Art Tagebuch zu notieren, so dass er, wenn sie genügend Material in Händen hatten, um damit vor Gericht gehen zu können, seine gesamte Arbeit schwarz auf weiß vor sich hatte. Außerdem, so fiel ihm ein, musste er ein paar ergänzende Informationen auf die Tafel schreiben. Er dachte an die zwei Spalten, die er angefangen hatte, und auf dem Weg zum Bett spähte er noch einmal über die Schulter zu seiner Tafel.
Er blieb ruckartig stehen.
Er sackte mit dem Rücken an die Wand und schnappte nach Luft.
Er schaute in alle Richtungen, um zu sehen, ob etwas fehlte, dann starrte er erneut die Kreidetafel an. Das muss irgendein dummer Zufall sein, dachte er. Vielleicht eine Putzkolonne. Bestimmt gibt es irgendeine simple Erklärung dafür.
Doch außer der naheliegenden fiel ihm keine ein.
Jeffrey pfiff langsam durch die Zähne. Nichts ist sicher, gestand er sich ein.
Er blieb mehrere
Weitere Kostenlose Bücher