Das Rätsel
sauber, ordentlich und ruhig war.
Und sicher, rief sich Jeffrey ins Gedächtnis. Allzeit sicher.
In der Zeitungsredaktion empfing ihn die Sekretärin hinter dem Empfangstresen mit einem freundlichen Lächeln, als er durch die Schwingtür trat. An einer Wand waren bekanntere Ausgaben des Blattes zu einem gigantischen Format vergrößert, so dass die Schlagzeilen einem entgegensprangen – für die Lobby einer Zeitung durchaus keine unübliche Dekoration; was ihn überraschte, war die Auswahl der Artikel. Bei anderen Blättern waren es bemerkenswerte Ausgaben der Vergangenheit, die eine Mischung aus Erfolgen und Desastern, aus Schicksalsstunden der Nation vorstellten – Pearl Harbor oder V-E Day, Kennedys Ermordung, der Börsenkrach, Nixons Abdankung, der erste Mensch auf dem Mond. Hier dagegen verbreiteten die Schlagzeilen ausnahmslos optimistische Aufbruchsstimmung und befassten sich mit entschieden lokalen Themen: DURCHBRUCH FÜR NEW WASHINGTON, ENTSCHEIDENDER VORSTOSS ZU STAATLICHER ANERKENNUNG, ERSCHLIESSUNG DES NEUEN TERRITORIUMS IM NORDEN, ABKOMMEN MIT OREGON UND KALIFORNIEN UNTER DACH UND FACH.
Nur gute Nachrichten, dachte Jeffrey.
Er wandte sich von der Wand ab und fragte die Sekretärin: »Hat die Zeitung ein Leichenschauhaus?«
Die Frau machte große Augen. »Ein was?«
»Ich meine, ein Archiv. Wo Sie alte Ausgaben aufbewahren.« Sie war jung, sehr gepflegt und besser gekleidet, als man es von jemandem in ihrem Alter und dieser Position erwartet hätte.
»Ach so, natürlich«, beeilte sie sich. »Ich hab nur noch niegehört, dass jemand diesen anderen Ausdruck benutzt. Wo man Tote aufbewahrt.«
»Früher hat man Zeitungsarchive immer so genannt«, erwiderte er.
Sie lächelte. »Man lernt nie aus. Vierter Stock. Halten Sie sich rechts. Schönen Tag noch.«
Er fand das Archiv ohne Mühe ein Stück hinter der Nachrichtenredaktion. Er blieb einen Moment lang stehen und beobachtete die Männer und Frauen, die an ihren Schreibtischen vor ihren Bildschirmen saßen. Über dem Platz des Chefredakteurs hing unterhalb der Decke eine Reihe Fernsehmonitore, die auf den Nachrichtensender des Kabelfernsehens eingestellt war. Der Raum wirkte bis auf das allgegenwärtige Klicken der Tastaturen und ein gelegentliches Gelächter erstaunlich still. Telefone summten dezent. Alles machte den Eindruck einer gut geölten Maschinerie, bar jeder Romantik, die die Redaktionsarbeit früher einmal mit sich gebracht hatte. Nach einem Ort, an dem wütende und empörte Wortgefechte ausgetragen, an dem mit aller Leidenschaft für die Wahrheit eine Lanze gebrochen wurde, sah es nicht aus. Niemand dort ähnelte auch nur entfernt einer Hildy Johnson oder einem Mr. Burns. Es herrschte auch keine Hektik. So stellte er sich die Büros einer großen Versicherungsgesellschaft vor. Drohnen bereiteten Daten für eine homogenisierte Verbreitung vor.
Der Archivar war ein paar Jährchen älter als Jeffrey und ein wenig beleibt, mit einer leicht asthmatischen Stimme, als kämpfte er ständig mit einer Erkältung. »Im Moment haben wir geschlossen«, erklärte er. »Es sei denn, Sie hätten einen Termin. Die allgemeinen Öffnungszeiten stehen auf dem Schildchen da rechts.« Er machte eine Handbewegung, als wollte er den Besucher damit entlassen.
Jeffrey zückte seinen vorläufigen Ausweis. »Ich komme in amtlichen Angelegenheiten«, sagte er und gab sich so offiziös, wie er konnte. Er vermutete, dass der Mann einen Moment lang sein Terrain verteidigen, dann nachgeben und sich schließlich als hilfreich erweisen würde.
»Amtlich?« Der Mann starrte auf den Pass. »Was für ein Amt?«
»Staatssicherheit.«
Der Archivar sah neugierig auf. »Ich kenne Sie«, meinte er.
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Jeffrey.
»Doch, ich bin mir sicher«, beharrte der Mann. »Hundert Prozent. Waren Sie schon mal hier?«
Jeffrey zuckte die Achseln. »Nein, noch nie. Aber ich brauche Hilfe, um ein paar Akten zu finden.«
Sein Gegenüber starrte auf den Pass, dann wieder auf seinen Besucher, dann nickte er. Er wies dem Professor einen leeren Stuhl vor einem Computerbildschirm zu und zog sich selbst eine Sitzgelegenheit heran. Jeffrey bemerkte, dass der Bibliothekar zu schwitzen schien, obwohl es kühl war. Außerdem redete er ausgesprochen leise, obwohl niemand zu sehen war, was aber wohl bei seinem Berufsstand zur Gewohnheit wurde.
»Also«, begann der Mann. »Was brauchen Sie?«
»Unfälle«, erwiderte Jeffrey. »Unfälle, die junge Mädchen
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