Das Rätsel
Journalismus, bei der das tragische Ende MÄDCHEN GEFUNDEN durch eine lakonische Feststellung ersetzt wurde: POLIZEI BRICHT FRUCHTLOSE SUCHE AB. Keiner der Artikel hatte es je auf die Titelseite geschafft, keiner hatte Berichten über neue Firmen, die sich im Einundfünfzigsten Bundesstaat niederließen, den Rang ablaufen können. Kein einziger Beitrag brachte Tatsachen, die über die offiziellen Erklärungen eines Sprechers der Staatssicherheit hinausgingen. Und bei keiner Gelegenheit hatte ein findiger Reporter auf die Ähnlichkeiten zwischen diesem Unglück und früheren Vorfällen hingewiesen. Noch hatte einer von ihnen je eine Liste zusammengestellt, wie Jeffrey sie gerade erarbeitete.
Das erstaunte ihn. Wenn
er
die Zahl der Übereinstimmungen sah, dann gewiss auch ein Reporter. Die Informationen dazu ruhten schließlich in ihrem eigenen Archiv.
Es sei denn, sie hatten es gesehen, konnten es aber nicht veröffentlichen.
Jeffrey fuhr auf seinem Stuhl zurück und starrte auf den Bildschirm. Einen Moment lang wünschte er sich, in der Nachrichtenredaktion, an der er eben vorbeigegangen war, wärentatsächlich nur Versicherungskaufleute tätig, denn die hätten wenigstens mit Hilfe versicherungsmathematischer Tafeln die Wahrscheinlichkeit errechnen können, mit der diese Mädchen bei angeblichen Unfällen ums Leben gekommen waren.
Keine Chance, sagte er sich. Was ist mit Entführung durch Außerirdische?, spöttelte er und erinnerte sich, dass Agent Martin ihm gegenüber ebenfalls darüber gewitzelt hatte.
Er wiederholte leise für sich: »Ganz und gar nicht wahrscheinlich.«
Jeffrey versuchte zu raten, wie viele dieser Todesfälle tatsächlich so passiert waren wie beschrieben. Ein paar bestimmt, nahm er an. Es musste ein paar Teenager gegeben haben, die wirklich von zu Hause weggelaufen waren, und auch ein paar, die sich tatsächlich das Leben genommen hatten, und vielleicht war es wirklich zu einem Campingunfall gekommen. Vielleicht sogar zu zweien. Er rechnete rasch im Kopf. Zehn Prozent wären drei Todesfälle. Zwanzig wären sechs. Blieben immer noch etwas mehr als zwanzig über einen Zeitraum von zehn Jahren. Mindestens zwei pro Jahr.
Er wippte auf seinem Stuhl.
Die Serienmörder der Kriminalgeschichte, die planmäßig vorgingen, hätten darin bestimmt eine vernünftige Kanalisierung mörderischer Energie gesehen. Nicht spektakulär, aber doch angemessen. Die andere Sorte, die psychotischen Killer, die ihren tödlichen Orgien ausgeliefert waren, würden die Zahl wohl eher als bescheiden werten, wenn sie von ihren Ehrensitzen in der Hölle nach oben blickten. Sie waren gierig und auf sofortige Befriedigung aus – und aufgrund ihrer Exzesse natürlich auch leichter zu fangen.
Die stetigen, stillen, methodischen Mörder, die im nächsten Höllenkreis gemartert wurden, würden einem Mann, der seine Leidenschaft derart im Zaum halten konnte und zu solcherSelbstbescheidung fähig war, anerkennend zunicken. Wie der Wolf, der nur die kranken oder verletzten Tiere einer Karibuherde erlegt und nie so viele reißt, dass der Bestand seiner Nahrungsquelle ernsthaft gefährdet wäre.
Jeffrey schauderte.
Er machte sich daran, die Artikel auszudrucken, von denen er glaubte, dass sie einen Fall beschrieben, der in dieses Muster passte. Nun hatte er auch begriffen, wieso man ihn hinzugezogen hatte. Den Behörden gingen die plausiblen Entschuldigungen aus.
Wilde Hunde und Wölfe. Schlangenbisse und Selbstmord. Irgendwann nahm ihnen jemand das Ganze nicht mehr ab. Und dann hätten sie ein richtiges Problem. Er schmunzelte, als ob zumindest ein Teil von ihm das Ganze komisch fände.
Sie haben nicht zwei Opfer, dachte er.
Sie haben zwanzig.
Im nächsten Moment verging ihm das Lächeln, als er sich die nächstliegende Frage stellte:
Wieso haben sie das nicht von vornherein gesagt?
Neben ihm spuckte ein Drucker die Blätter mit den Artikeln aus. Er schaute auf und sah den Bibliothekar in seine Richtung kommen, eine Ausgabe der
Post
in der Hand.
»Ich hab doch gewusst, dass ich Sie schon mal gesehen habe«, keuchte der Mann in selbstzufriedenem Ton. »Na ja, schließlich waren Sie letzte Woche auf der ersten Seite des ›Rund um den Staat‹-Teils. Sie sind eine Berühmtheit.«
»Was?«
Der Mann hielt ihm eine Zeitung unter die Nase, und er sah sein Bild, zwei Spalten breit, drei Spalten lang, ganz unten am Umbruch der Vorderseite des zweiten Teils. Die Schlagzeile über dem Artikel, der es begleitete, lautete: ES
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