Das Rätsel
immer noch außer Atem, um.
Zu stur, dachte er. Vor allem zu neugierig.
Er ging ein paar Meter, um sich zu beruhigen und abzukühlen. Zurück am Eingang zur Staatssicherheit stoppte er noch einmal und starrte hinauf. Geheimnisse, dachte er. Hier gibt es mehr Geheimnisse, als du dir ausgemalt hattest.
Einen Moment lang fragte er sich, ob er selbst wie das Gebäude war. Eine feste, unauffällige Maske, hinter der sich Lügen und Halbwahrheiten verbargen. Er starrte weiter auf den Bau und sagte sich das Offensichtliche: Du kannst niemandem trauen.
Seltsamerweise machte ihm diese Einsicht Mut, und er wartete,bis sein Puls wieder normal war, dann erst betrat er das Gebäude. Der Mann vom Wachdienst sah von seiner Reihe Monitore auf.
»Hey«, begrüßte er ihn, »Martin sucht nach Ihnen, Professor.«
»Jetzt bin ich ja da«, erwiderte Jeffrey.
»Er sah nicht gerade glücklich aus«, fuhr der Mann fort. »Genau genommen sieht er nie glücklich aus, oder?«
Jeffrey nickte und ging an ihm vorbei und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
Er war auf einen Agenten Martin gefasst, der in ihrem Büro auf und ab marschierte, wenn er zur Tür hereinkam, doch es war niemand da. Er blickte sich um und sah auf seinem Computerbildschirm eine Meldung über eingegangene Post. Er rief seine Mails auf und las:
Clayton, wo zum Teufel stecken Sie? Sie sollen mich vierundzwanzig Stunden am Tag unterrichtet halten, wo Sie gerade sind. Und zwar immer, Professor, verdammt. Keine Ausnahme von der Regel. Nicht mal, um für kleine Jungs zu gehen. Ich bin draußen, um nach Ihnen zu suchen. Wenn Sie zuerst zurückkommen, finden Sie den vorläufigen Autopsiebericht des möglicherweise jüngsten Opfers unter dem Dateinamen NeuTote 4. Lesen Sie ihn. Bin gleich zurück.
Jeffrey wollte diese Datei gerade öffnen, als er bemerkte, dass noch eine zweite Botschaft für ihn eingegangen war. Was hast du jetzt noch zu meckern, Detective?, fragte er und scrollte zur zweiten Mail herunter.
Doch jede Spur Verärgerung war wie weggeblasen, als er diese Nachricht las. Sie war ohne Unterschrift und ohne Gruß, nur eine Wortreihe, die grün auf dem schwarzen Bildschirmglühte. Er las sie zweimal, bevor er sich mit seinem Stuhl ein Stück vom Computer wegschob, als sei der Apparat gefährlich und könnte nach ihm greifen.
Dort stand:
ALS DU KLEIN WARST, HAST DU AM LIEBSTEN GUCKGUCK GESPIELT. UND ALS DU EIN BISSCHEN GRÖSSER WARST, HAST DU VERSTECKEN GESPIELT. BEHERRSCHST DU DIESE SPIELE NOCH, JEFFREY?
Jeffrey versuchte, das klaffende Loch zu stopfen, aus dem ihn eine Flut an Gefühlen überschwemmte und mühelos den Schutzwall an Einsamkeit und Isolation durchbrach, den er über Jahre hinweg um sich aufgerichtet hatte. Er fühlte etwas Lebendiges in sich, halb Angst, halb Faszination, halb Panik, halb Erregung. Die Gefühle rumorten wild durcheinander, und er setzte alles daran, sich nicht überwältigen zu lassen. Nur einen Gedanken ließ er klar und deutlich zu, eine einzige Antwort, die allein ihm galt und ganz gewiss nicht seinen Auftraggebern, eine Antwort, die, wie er vermutete, der Gejagte längst kannte – nur dass er sich nicht so sicher war, ob dieses Wort den Mann, den er suchte, noch korrekt beschrieb.
Ja, sagte er innerlich. Die Spiele beherrsche ich immer noch.
12. KAPITEL
Greta Garbo hoch zwei
Als sie noch glaubten, sie wären in der Welt ganz auf sich gestellt, entwickelten beide ein eigentümliches Gefühl der Sicherheit. Sie dachten, sie könnten sich gegenseitig ausreichend Halt, Schutz und Kameradschaft bieten. Jetzt, da sie sich ihrer Isolation weniger sicher sein konnten, war die Routine ihrer Beziehung gestört; Mutter und Tochter waren plötzlich nervös, beinahe misstrauisch gegeneinander und voller Angst vor dem, was sie außerhalb ihrer eigenen vier Wände erwartete. In einer gewaltbereiten Welt war es ihnen bislang gelungen, emotional wie physisch starke Barrieren aufzurichten.
Jetzt beschlich – unabhängig voneinander – sowohl Diana als auch Susan Clayton das Gefühl, dass dieser Schutzwall durch die vage Präsenz eines Mannes, der Botschaften schickte, ganz allmählich bröckelte, wie ein im Wasser ruhender Stützpfeiler, der unter dem unablässigen Wellenschlag langsam zerbröselt und rissig wird, bis er einbricht und im graugrünen Meer versinkt. Keine von beiden verstand so recht, wovor genau sie sich ängstigten; dass irgendein Mann sie verfolgte und ihnen auflauerte, daran gab es keinen
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