Das Regenmaedchen
Mörder
trugen kein Erkennungsschild um den Hals. Johannes Reuter. Englisch und Chemie.
Maries Lehrer.
Sie wusste es auch, Maries Mutter.
»Woher hat sie ihn gekannt?«, fragte sie flüsternd. »Wie
hängt das zusammen? Was ist geschehen?«
»Sagen Sie es uns«, sagte Franza. »Sagen Sie uns, was ist
damals geschehen?«
»Wir saßen im Auto«, sagte Judith tonlos. »Er ist
gefahren. Plötzlich war dieses Mädchen da. Es hat geregnet. Man hat fast nichts
gesehen. Es war ein Gewitterregen. Wir hatten einen wunderbaren Tag hinter uns,
planten unsere Zukunft, wir waren zusammen, haben uns geliebt. Aber plötzlich
lag dieses Mädchen da. Auf der Straße. Und es knallte den Regen auf sie.«
Sie kam zu sich. Das erschreckte ihn ein bisschen, er
hatte nicht mehr damit gerechnet. Sie wollte hoch, taumelte, fiel wieder
zurück. »Was?«, sagte sie. Also gut, dachte er und war ein bisschen froh, also
gut, dann soll es so sein. Zurück in die Stadt, in ein Krankenhaus, erklären,
reden, erklären, den Ärzten, der Polizei, seiner Frau, Judith.
Er breitete eine Decke über die Rückbank seines Autos, hob
sie hoch, sie stöhnte. Er legte sie auf die Decke, platzierte ihren Kopf auf
eine zweite Decke, vorsichtig, behutsam, damit sie mit ihrem Blut nicht sein
Auto versaute. Sie wird nichts sagen, dachte er und schüttelte heftig den Kopf,
ich rette sie, sie wird nichts sagen, wir gehen nach Berlin. Lisa Fürst war
längst verjährt. Verjährte der Tod?
Er blinkte, bog hinaus vom Parkplatz, die Scheinwerfer
seines Autos durchschnitten rasch die Dämmerung. Langsam setzte der Morgen
verkehr ein.
Sie war unruhig, stöhnte, versuchte hochzukommen. »Bleib
liegen«, sagte er.
»Du hast dich verletzt. Ich bring dich in ein
Krankenhaus.«
»Nein«, sagte sie. »Nicht. Bring mich heim. Bring mich zu
Ben.«
Das war es gewesen. Sonst nichts.
Das Rot vor seinen Augen. Es blitzte. Machte blind.
Also nicht.
Dann eben nicht. Wie konnte sie? Alles zerstören. Zum
zweiten Mal. Seinen schon so endlos langen Traum von dieser Liebe.
Judith war aus dem Auto gesprungen und hatte ihn
verlassen. Er wusste es wie damals, der Augenblick war ewig. Sie waren baden
gewesen in der Donau, dann das Gewitter, dann rasch zum Auto, noch lachend,
noch fröhlich, dann das Kind in der Mitte der Straße, dann das Kind an der Windschutzscheibe,
dann das Blut und das Hämmern des Regens.
Sie waren aus dem Auto gesprungen, alle beide, waren hin
zum Kind, es lag und war still, nichts mehr zu machen. Ein Lied in den Wolken,
ein halbes Singen.
Er hatte sich umgedreht, einmal, zweimal um sich selbst,
niemand war da gewesen, niemand, nur Judith und er. »Steig ein«, hatte er
gesagt. »Wir fahren.« Sie wandte sich ihm zu, langsam, starrte ihn an,
Entsetzen im Gesicht, im Körper. Da packte er sie am Arm, schob sie zum Auto. »Wir
fahren«, sagte er. »Wir fahren!«
Sie erwachte aus ihrer Starre, begann sich zu wehren.
»Bist du verrückt?«, sagte sie. »Wir können sie doch nicht...«
Und wandte sich zum Kind und wollte hin, da packte er sie
wieder, zerrte sie ins Auto, sie schrie und wehrte sich, da schlug er zu.
Brüllte in ihr Ohr, das Kind sei tot.
Brüllte, nichts könne man mehr tun, nichts sei zu machen.
Brüllte, sein Leben gehe kaputt, wenn er bliebe, ob sie
das wolle, sein Leben ...
kaputt.
Merkte endlich, dass er immer noch auf sie einschlug, immer
noch auf sie einschlug, aber sie...
Seine Stimme kippte, seine Hand.
... aber sie war still. Endlich.
Er drehte sich um. Dem Kind, einem Mädchen, wusch der
Regen das Blut vom Kopf, vom Körper. Diesem Kind, diesem Mädchen verdankte er
diese SCHEISSSITUATION! Er stieg ins Auto, fuhr weg. Judith auf dem Rücksitz
hielt immer noch ihr VERDAMMTES MAUL!
Er fuhr und fuhr, wusste nicht, wohin, aber irgendwohin,
wo man ihn sehen würde, sich erinnern würde, wo man sagen würde: Ja, der war
da! Der auf alle Fälle.
Falls es nötig wäre, später, falls sie suchten, die
Bullen. In seinen Ohren klang ein Ton wie von einer Frauenstimme, zart, hoch,
und Judith im Rückspiegel lag starr, BLÖDE FOTZE, starr ihr Gesicht und ihre
Augen, BLÖDE FOTZEN WAREN SIE DOCH ALLE, da wusste er, spätestens da ... keine
Liebe mehr, Judiths Liebe nie mehr, nicht an der Donau, nirgends, nie mehr.
Die Stille kam später, mit ihr das Zittern und diese
schreckliche Einsamkeit. »Verschwinde«, hatte sie gesagt. »Komm nie wieder.«
Mit einer Stimme, die war... ruhig, fast sachlich.
Er war stehen
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