Das Regenmaedchen
Klinge
springen lassen.
Es war sechs Jahre her, sie war angetreten zur
Reifeprüfung in Chemie, weil sie gehofft hatte, ihn ein bisschen manipulieren
zu können, weiblicherseits. Das hatte er ihr übelgenommen. Als er während der
Vorbereitungszeit zur mündlichen Prüfung an ihren Tisch getreten war, hatte sie
ihm den Prüfungsbogen hingeschoben, auf den sie mit Bleistift einen einzigen
bedeutungsvollen Satz geschrieben hatte. Ich würde mich mit Freude und
Ausdauer erkenntlich zeigen. Ein Lächeln und die Aussicht
zwischen ihre geschickt platzierten und halbgeöffneten Schenkel sollten das
Übrige tun, taten es jedoch nicht. Er schaute sich zwar alles an, was sie ihm
so klug präsentierte, aber dann schaute er ihr ins Gesicht und sie bemerkte
neben der Überraschung ein kleines belustigtes Funkeln in seinen Augen und dann
ging die Augenbraue hoch und das war's gewesen.
»Dabei«, sagte sie, »ging das Gerücht, dass er hinter
jedem Rock her war. Nur nicht hinter meinem. Leider.«
»Tja«, sagte Arthur seufzend.
»Tja«, sagte Marilyn seufzend. »Und darum sitze ich hier
und verplempere meine Zeit, denn alle schicken Jungs, die diese Bude stürmen,
sind in Begleitung.«
Ihre Augen glitten über Arthurs Beine und hoch bis zu
seinem Gesicht, und sie lächelte und er fürchtete, rot geworden zu sein.
»Nur Sie nicht«, sagte sie und strahlte, und er strahlte
auch, wie eine Tomate vor dem Gang in die Ketchupflasche.
Später erzählte sie ihm noch, dass der Arsch sie nicht
einmal erkannt hätte. Als sie ihm und seiner kleinen Dingsda den Champagner und
die Garnelen und den Wolfsbarsch servierte. Dabei seien sechs Jahre doch nur
sechs Jahre. Aber er hätte eben nur Augen für die kleine Nutte gehabt. Und
zwischen Hauptgang und Dessert sei so manches gelaufen im Separee. Da sei sie
sicher, erklärte sie mit leuchtenden Augen. Da könne sie wetten. Wenn er wisse,
was sie meine. Ja. Er wusste. Sie deutete es so eindeutig an, dass er nicht
umhinkam, es zu wissen.
Alles hatte er erfahren, Name, Alter, Vorlieben,
Abneigungen, Konfektionsgrößen. Einfach alles. Und als der Wodka sich in seiner
Brust warm und breitmachte, da hätte er sich gerne auch noch an anderer Stelle
erwärmt. Wenn Zeit gewesen wäre. Aber die war eben nicht. Scheißherz!
Scheißsonderschicht! Wenig später marschierte er hinter ihr her zur Tür. Was
für ein Arsch, dachte er überwältigt. Und ging. Beschwingt.
Judith sagte keinen Ton, aber man merkte ihr an, dass sie
erstaunt war. Sie trat beiseite, ließ die Ermittler ins Haus und ging voran ins
Wohnzimmer. Sie sahen es sofort, überall herrschte Aufbruch. Die Regale waren
leer, Schachteln stapelten sich übereinander, kalkuliertes Chaos. »Ich ziehe
aus«, sagte sie erklärend. »Ich habe mir eine Wohnung in der Stadt genommen.
Wir werden das Haus verkaufen.«
Sie räumte den Tisch und drei Stühle leer, schaltete den
Fernseher aus, es liefen gerade die Abendnachrichten, und bot den Ermittlern
an, sich zu setzen. »Ich hätte das längst tun sollen«, sagte sie. »Ich freue
mich auf das Alleinsein.« Und schaute ins Leere.
Ob sie wohl zusammengeblieben wären, fragte sich Franza,
mein Sohn und ihre Tochter, ob wir uns je kennengelernt hätten, uns gemocht
hätten, sie und ich, ob wir uns damals irgendwann begegnet sind, damals, als
wir jung waren, in irgendeinem Tanzschuppen, auf irgendeinem Sommerfest, könnte
doch sein. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Judith Gleichenbach und
wischte mit der Hand über den Tisch. Franza schüttelte den Kopf, Felix ebenso.
»Nein«, sagte sie. »Vielen Dank. Wie geht es Ihnen denn?«
Judith nickte, zuckte mit den Schultern. »Es geht schon.
Muss ja. Ich werde mir Arbeit suchen.«
Sie machte eine kurze Pause, rang nach Worten. Franza kam
ihr zuvor.
»Wir würden Ihnen gerne etwas zeigen«, sagte sie. »Wir
haben das hier in Maries Zimmer gefunden.«
Sie legte Zeitungsartikel und Foto nebeneinander auf die
Tischplatte. Judith beugte sich vor, um sie sich anzusehen. Im gleichen Moment
erstarrte sie. Sprang auf, begann in den Schachteln zu wühlen, warf Bücher,
Mappen und anderen Kleinkram auf den Boden. Endlich fand sie, was sie gesucht
hatte, ein Fotoalbum. Mit zitternden Fingern öffnete sie es, blätterte es Seite
um Seite durch, bis sie etwa bis zur Mitte gelangt war. Dann ließ sie es
sinken, es rutschte auf den Boden, wo es liegen blieb.
Judith schlug die Hände vor das Gesicht, das leichenblass
geworden war. »Sie hat es
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