Das Regenmaedchen
des dritten Tages hatte er beschlossen, nicht
mehr aus dem Haus und in die Schule zu gehen, war an Karens besorgtem Blick
vorbei ins Schlafzimmer getrabt, versperrte es, versenkte sich in die Fotos,
hatte sie auf dem Bett ausgebreitet, auf der Kommode, auf dem Boden, überall,
ignorierte Karens Hämmern, ihren Anspruch, nachts in ihrem Bett zu schlafen,
verließ das Zimmer erst wieder am Morgen, als draußen alles leer war und still.
Die Kinder gingen ihm auf die Nerven. Karen. Ihre umschatteten Augen. Er ertrug
sie nicht mehr, verstand nicht, dass er sie Je ertragen hatte. Sie wusste
nichts von dem dunklen Strom, der ihn durchzog, der durch ihn hindurchbrauste
und ihm keine Ruhe ließ.
Sie zuckten in seine Gedanken, Marie, Judith, das Kind.
Sie trieben in den Pulsschlägen seines Blutes.
Und er? Wollte der Stille nach. Dem Schweigen zu. Sonst?
Nichts mehr.
»Er wird nicht da sein«, orakelte Felix dumpf, während er
die Klingel drückte. »Sie sind nie da. Und ich weiß das jedes Mal vorher. Ich
spür das in den Knochen. Und heute besonders.«
Er streckte vorsichtig den Rücken durch, wartete, dass es
irgendwo in seinem Inneren knacken würde, aber es geschah nichts.
Die Tür öffnete sich innerhalb von Sekunden, als hätte
jemand dahintergestanden und auf das Klingeln gewartet. Zwei Mädchen im
Grundschulalter schmiegten sich an die Frau, erschrocken und still. Sofort
musste Franza an Bohrmanns Kinder denken und daran, welche Tragödien in dieser
Stadt noch auf sie warteten.
Im Hintergrund tauchte ein älteres Paar auf. Wenigstens
war sie nicht alleine. Wenigstens hatte sie sich Beistand geholt.
Es war zehn vorbei, der Himmel dunkel, zwei Laternen links
und rechts an den Pfeilern erleuchteten den Zugang zum Reihenhaus.
Sie sagte nichts. Hatte die Tür geöffnet und starrte ihnen
entgegen.
»Frau Reuter«, sagte Franza und streckte ihre Hand aus,
die Geste lief ins Leere.
»Sie erinnern sich an uns? Wir waren vor zwei Tagen bei Ihnen
in der Schule.«
Karen schwieg.
»Wir würden gerne Ihren Mann sprechen«, sagte Franza
behutsam und hasste sich dafür. Wie oft schon war sie Überbringerin schlechter
Nachrichten gewesen. Wie oft schon Auslöserin weiterer Tragödien, nicht immer
kleiner als die vorangegangenen. Jedes Mal brachte sie den Schmerz in Häuser
und Wohnungen, trug ihn weiter und weiter, nie verebbte er und nie wurde das Überbringen
leichter. Oft nahm sie sich vor, Arthur davon zu erzählen, davon, dass der
Schmerz sie jedes Mal miterfasste und jedes Mal länger festhielt, länger als
beim vorangegangenen Mal. »Such dir etwas anderes«, wollte sie sagen. »Lass
diesen Job sausen. Der Schmerz macht einsam. Wenn du es merkst, ist es zu
spät.« Aber sie wusste, sie würde ihm nichts davon sagen, so, wie ihr nichts
gesagt worden war und auch Felix nicht. Er musste es selbst merken, so wie sie,
so wie Felix, und dann würde es eben sein, wie es war, sie waren aus demselben
Holz geschnitzt und hatten keine Wahl.
»Unser Schwiegersohn ist nicht da«, sagte Karens Mutter,
trat an Karens Seite und legte den Arm um sie. »Was wollen Sie denn von ihm?
Wer sind Sie denn überhaupt?«
Sie zückten ihre Ausweise. »Kriminalpolizei«, sagte Herz,
nannte in rascher Abfolge ihre Namen. »Wir ermitteln in einem Mordfall. Wann
kommt er denn wieder?«
»Das wissen wir nicht«, sagte die Mutter und wurde
abweisend, »es ist spät. Würden Sie wohl wieder gehen? Meine Tochter fühlt sich
nicht gut, und die Kinder müssen ins Bett.«
Sie schüttelten die Köpfe, Franza und Felix, gleichzeitig.
Lustig, dachte Arthur, der im Hintergrund stand. Wie sie aufeinander
eingestimmt waren. Wie ein altes Ehepaar.
»Das wird leider nicht möglich sein«, sagte Herz langsam.
»Aber bringen Sie die Kinder ruhig ins Bett. Wir dürfen doch?«
Er stieg die letzte Stufe hoch und schob sich an der
Mutter vorbei ins Haus. Franza und Arthur folgten. Die Einrichtung zeugte von
Geschmack und Stil, moderne Möbel gemischt mit alten Stücken, an den Wänden
Kunst. Auf dem Esstisch, der inmitten des Raumes stand, lag eine Packung
Zigaretten. Franza und Felix schauten sich an. Er nickte. Es war die richtige
Sorte. Der Vater wollte protestieren. »Aber hören Sie mal! Das dürfen Sie doch
gar nicht! Einfach so in ein Haus eindringen!«
»Doch«, sagte Felix. »Das dürfen wir. Der Gesetzgeber hat
uns für solche Situationen ein Rechtsmittel eingeräumt. Gefahr im Verzug.«
Karen mischte sich ein. »Ist er es gewesen?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher