Das Regenmaedchen
geblieben vor einem Lokal in der Innenstadt,
sie war ausgestiegen, ein wenig schwankend, er hatte versucht sie aufzufangen,
zu halten, sie hatte abwehrend die Arme gehoben. »Fass mich nicht an!«, hatte
sie gesagt. »Fass mich nicht an.« Dann war sie losmarschiert, über die Straße
und hinein in eine Gasse, die er nicht kannte. Sie humpelte ein bisschen, er
fragte sich, warum und ob er wirklich so zugeschlagen hatte, dass sie davon
humpelte. Das konnte doch nicht sein, das war doch nichts gewesen!
Er schüttelte den Kopf und versuchte zu lachen, es gelang
ein bisschen. Dann prägte er sich ihr Bild ein, das letzte, das er von ihr
hatte, es blieb all die Jahre lang sein Bild von ihr, wie sie da verschwand,
hinein in diese Gasse, in einer leuchtend weißen Tunika, fast durchsichtig,
weit ausgeschnitten vorne und hinten, mit halblangen Ärmeln, am Hals die Träger
ihres roten Bikinis, weite, helle Leinenhosen, lilafarbene Espandrillos, die
dunklen Haare nur flüchtig hochgesteckt, Strähnen fielen lose heraus, Hals,
Nacken, Arme gebräunt, immer noch der Regen, der sie durchsichtiger machte, als
sie war. Ein Schluchzen steckte in ihm, ein wildes Flennen, er wollte ihr
hinterher, aber eine unsichtbare Schranke stand schon zwischen ihnen, die wurde
größer und größer, je tiefer sie in der Gasse verschwand, und er sah ein, an
ihr würde er sein Flennen nicht mehr weinen können, nicht mehr an ihr Schließlich
betrat er das Lokal und betrank sich. Der Tod schmeckte nach Apfelkorn, die
Liebe nach Holunderschnaps, die Verzweiflung nach nichts.
Keiner hatte ihn je nach einem Alibi gefragt, all die
Jahre nicht. Keiner hatte ihm je diesen Namen genannt, Lisa Fürst. Und nun
ausgerechnet sie, Judiths Tochter, war das Judiths Rache, ihre späte, von der
sie nichts erfahren würde? Was ist das Leben wert, dachte er und spürte die
Verzweiflung. Er stieg auf die Bremsen, hörte, wie sie aufschrie, Judiths
Tochter, spürte sie im Rücken, spürte, wie sie in den Spalt zwischen die Sitze
rutschte, sie war dünn, ein dünnes, kleines Mädchen, sie passte da hinein,
sollte sie da liegen bleiben. Scheiße, dachte er, sie versaut mir den Wagen.
Immer versauen sie einem den Wagen, die eine von außen, die andere von innen.
Warum hab ich ständig diese Scheiße am Hals?!
Der Wagen schlitterte, die Straße war nass, der Wagen
schlitterte hinaus über den Pannenstreifen, hinein ins Gras.
Marie zwischen den Sitzen stöhnte, hatte alle Rechte
verwirkt, schrie schon wieder nach Ben! BLÖDE FOTZEN WAREN SIE DOCH ALLE, BLÖDE
FOTZEN! Sein Leben hatte er ändern wollen, Frau und Kinder verlassen, wieder
ganz von vorne beginnen. Und sie? Was tat sie? SCHRIE NACH BEN! Er stieg aus,
öffnete auf seiner Seite die rückwärtige Tür.
Sie schaute ihn an, mühsam von unten. »Mein Bein«, sagte
sie, »ich glaube, ich hab 's mir verdreht.« Er sagte nichts.
»Was machst du?«, fragte sie staunend, als er sie unter
den Armen packte. Dann schrie sie vor Schmerz. Dann ließ er sie los.
»Du machst es wieder«, sagte sie zittrig. Er spürte, dass
sie sich fürchtete, das löste bei ihm ein eigenartiges Hochgefühl aus. Er eine
Katze. Sie die Maus. Dazwischen der Tod.
Wieder kippte sie weg. Ganz plötzlich. Der Schock?
Er verharrte, wischte über sein Gesicht, fühlte, dass es
nass war, wusste nicht, ob vom Regen oder weil er flennte. Es war das alte
Flennen, das von damals, es fühlte sich an wie damals, so weh, so wund. Sie
wollte ihn verlassen, schon wieder, hinein in diese Gasse in leuchtenden
Kleidern, Sommerton an Armen und Nacken, durchsichtig im Regen.
»Du machst es wieder«, hatte sie gesagt. »Du machst es
wieder!« Nein! Nicht er. Sie!
Er konnte kaum glauben, was geschah. Wiederholung der
Geschichte. Der Regen, die Straße, das Blut, das Mädchen. »Nein!«, sagte er.
»Nein, so ist das nicht. SO nicht!«
Er schaute starr in die andere Richtung, wischte wieder
und wieder über sein Gesicht, wusste endlich, das kam aus ihm, diese Nässe, aus
seinem Herzen, weil sie nun starb, sie, die er geliebt hatte, wie Blei würde
sie ab jetzt an ihm hängen, untrennbar, hatte er das nicht gewollt?
Er zerrte sie aus dem Auto, sie stöhnte, hielt sich den
Kopf, kam zu sich. »Nein«, sagte sie. »Nein, mach das nicht. Bitte. Lass mich
nicht hier. Lass mich nicht hier.«
Sie bettelte, flehte, jetzt auf einmal, BLÖDE FOTZE, sie
versuchte zu klammern, aber er schüttelte sie ab, lästiger Ballast, Regen nach
dem Sturm. Was war das
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