Das Reich der Elben 01
Brass Elimbors Tod waren die Schamanen sehr vorsichtig geworden. Man hatte keines der großen Beschwörungsrituale, mit denen die Jenseitigen in der alten Zeit gerufen worden waren, noch einmal angewandt. Hatten die Namenlosen Götter ihr Desinteresse am Volk der Elben nicht deutlich gezeigt? Hatten nicht auch die Eldran mit ihrem Verhalten gezeigt, dass sie sich von den diesseitigen Elben abgewandt hatten? Welchen Sinn hatte es da, die Jenseitigen aus ihren Sphären zu rufen? Welch eine andere Reaktion war denkbar außer der, dass sich die Jenseitigen verärgert zeigten, wenn man ihren Frieden störte? Und die Maladran wollte ohnehin niemand für längere Zeit mit der Sphäre der Lebenden in Verbindung bringen, da ihnen die Aura des Verderbten anhaftete.
Manche Schamanen vertraten sogar die These, dass man in der Vergangenheit die Jenseitigen zu oft aus nichtigem Anlass gerufen und sie damit verärgert habe. Eine Ansicht, der sich immer mehr Mitglieder des Schamanenordens anschlossen. Kritiker wiederum behaupteten, die Schamanen wollten damit nur ihre Unfähigkeit und derzeitige magische und spirituelle Kraftlosigkeit verbergen.
»Seht Ihr denn keine Möglichkeit, mir zu helfen?«, fragte Branagorn verzweifelt, nachdem er Brass Shelian sein Herz ausgeschüttet hatte.
Der Schamane schüttelte den Kopf. »Ihr müsst Euch damit abfinden, dass Eure geliebte Cherenwen nicht mehr da ist. Je eher Ihr Euch dieser Tatsache stellt und sie zu akzeptieren
lernt, desto besser für Euch.« Brass Shelian legte Branagorn dem Suchenden die Hand auf die Schulter und sah ihn sehr ernst an. »Verzeiht mir diese sehr direkten Worte, aber vielleicht muss jemand so mit Euch reden.«
»Was meint Ihr damit?«, frage Branagorn, und seine Miene spiegelte seine Verwunderung wider.
»Davon, dass Eure geliebte Cherenwen schon lange nicht wirklich mehr unter den Lebenden weilte. Ihr Körper hat nur schließlich das nachgeholt, was mit ihrem Geist und ihrer Seele längst geschehen war.«
Tief in sich spürte Branagorn, dass der erhabene Brass recht hatte. Er hatte eine tote Hülle geliebt, deren Inneres ihn schon vor langer Zeit verlassen hatte. Aber diese Erkenntnis gelangte nicht bis an die Oberfläche seines Bewusstseins. Er weigerte sich, diese Wahrheit anzunehmen. Der Schmerz war einfach zu groß.
Branagorn schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das, was
Ihr gesagt habt, kann ich nicht akzeptieren.«
»Ihr müsst es – oder Ihr werdet Euer Leben vergeuden, indem Ihr einer Chimäre hinterher jagt. Ähnlich wie Fürst Bolandor und seine Getreuen noch immer dem Traum von Bathranor folgen und die Gestade der Erfüllten Hoffnung wohl nie finden werden, so werdet Ihr niemals Eure Cherenwen wiederfinden.«
»Man nennt mich den Suchenden. Und warum soll es mir nicht gelingen, einen Weg zu finden, um meine geliebte Cherenwen in Eldrana zu finden?«
»Der Schmerz in Eurem Herzen macht Euch blind für das Offensichtliche, werter Branagorn«, sagte Brass Shelian. »Ich kann Euch nur beschwören: Folgt meinem Rat. Ich bin nicht der Einzige, der sich Sorgen um Euch macht.«
»So?« Branagorn blickte auf und musterte den Obersten
Schamanen der Elben verwundert.
»Ich spreche vom König selbst«, erläuterte Brass Shelian.
Branagorn verzog das Gesicht zu einem freudlosen Lächeln, in dem sich Spott und Bitterkeit die Waage hielten. »Der König mag sich um sich selbst sorgen«, murmelte er düster.
Mehrere Jahre lang versuchte Branagorn, die Rituale der Schamanen zu erlernen, ohne selbst ein Schamane zu werden, denn damit hätte er sich der Disziplin des Ordens unterwerfen müssen, was er vollkommen ablehnte. Branagorn wollte eine Verbindung in die Reiche der Jenseitigen schaffen, um seine geliebte Cherenwen zu finden, nicht um sich vom Diesseits zu lösen. Ein Gedanke von ihr hätte ihm schon genügt, um sein Herz zu erleichtern. Doch seine Bemühungen blieben ohne Erfolg.
Branagorn betäubte sich mit dem Extrakt der Sinnlosen, von dem bekannt war, dass man damit auch Gefühle der Trauer zu bekämpfen vermochte. Zumindest ermöglichte der Extrakt einem Elben, eine Weile lang gar nichts zu empfinden, und so konnte Branagorn endlich wieder schlafen.
Dass dies auf die Dauer keine Lösung war, wurde Branagorn recht schnell klar. Schließlich fand er eine andere Methode, um das, was in ihm brodelte, zu betäuben, und die inneren Stimmen, die er zu hören begonnen hatte – aber von denen keine die seiner Cherenwen war –, zum Schweigen zu bringen: Er
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