Das Reich der Schatten
spielte ein Lächeln. Wie es aussah, hatte er seinen Platz gefunden – er gehörte hierher. Ein Kloß breitete sich in Lenas Kehle aus. Ragnar hatte sich verändert, hatte sich weiterentwickelt; und daher fragte sie sich nun, inwieweit diese Veränderung ihre Beziehung zueinander beeinflussen würde. Würde sie dadurch stärker werden, vielleicht sogar zu Liebe, oder musste Lena sich bald schon der Tatsache stellen, dass sie sich eher voneinander entfernt hatten? Zudem musste sie selbst irgendwann wieder zurück in ihre eigene Welt gehen. All dies bereitete ihr Angst und großes Unbehagen. Wäre es möglich, Ragnar zumindest gelegentlich zu besuchen? Oder konnte sie vielleicht sogar ganz hierbleiben – und wollte sie das überhaupt? Sie atmete tief durch und befreite sich aus diesem verworrenen Gedankenmeer. Noch stand so etwas überhaupt nicht zur Debatte.
»Kommt, wir halten Wache«, durchbrach Amelias sanfte Stimme das friedliche Schweigen.
»Wozu? Graha achtet doch …«, begann Maredd.
»Die Rodhakan«, unterbrach ihn Amelia, zupfte Etron am Hemd und forderte die beiden Männer mit ungeduldigen Gesten auf, ihr zu folgen. Maredd ergriff sein Schwert, Etron den Bogen, und Lena konnte noch hören, wie sie ihnen zuwisperte: »Die beiden haben sich sicher viel zu sagen, was nicht für unsere Ohren bestimmt ist.«
Auch Ragnar hatte das offenbar vernommen, denn er schmunzelte vor sich hin.
Doch plötzlich drehte sich Amelia noch einmal um, kam zurück und sah verlegen aus. »Lena, es tut mir übrigens leid, euch irrtümlich auf Schatzsuche geschickt zu haben.«
»Weshalb irrtümlich?«, hakte Lena nach.
»Weil es gar keinen Schatz gibt – zumindest nicht im Sinne von Gold und Edelsteinen.«
»Ach?« Durch die ganzen Turbulenzen der letzten Tage hatte Lena gar nicht mehr daran gedacht. So lange waren Ragnar und sie den Hinweisen auf Amelias Bildern gefolgt, waren sich nähergekommen, zu Freunden geworden.
Amelia hob zögernd die Mundwinkel, zuckte die Achseln und sagte dann betreten: »Damals, im Altenheim, konnte ich mich immer nur daran erinnern, dass Maredd häufig von einem Schatz und von Edelsteinen sprach. Aber mittlerweile erinnere ich mich wieder, was er wirklich sagte: Ich lasse dir die Teile des Amuletts in deiner Welt. Das ist der größte Schatz, den ich besitze, wertvoller als alle Edelsteine Elvancors. Wenn du erkennst, dass du meine Anam Cara bist, und dich an Elvancor erinnerst, wird mein Glück vollkommen sein. «
»Ich habe einen Erdgeist beschworen, und der hat durch seine Magie eine Hälfte des Amuletts in vier Stücke geteilt. Gemeinsam mit Amelia habe ich diese an den Kraftorten deiner Welt versteckt. Orte, die einst von deinen Vorfahren bewacht wurden, aber heute in Vergessenheit geraten und nicht mehr so stark wie früher sind. Ich fürchtete, Rodhakan könnten sich auch in eurer Welt aufhalten, und habe deshalb diese Orte gewählt, die sie schwächen und die sie deshalb meiden. Allerdings hatte ich nicht gedacht, dass eine für euch derart lange Zeit vergeht, bis Amelia sich entsinnt«, fügte Maredd hinzu. »In vielerlei Hinsicht sind mir die Menschen nach wie vor ein Rätsel.«
Zärtlich fuhr Amelias schlanke Hand über Maredds Wange. »Dein Vergessenszauber hat sich lange gehalten, aber manchmal, wenn ich gemalt habe, dann habe ich mich an Elvancor erinnert. Nur flüchtig, wie in einem Traum. Doch heute weiß ich, dass ich damals viele Bilder Elvancors erschaffen habe, aber auch von den Orten, an denen die Teile des Amuletts versteckt waren. Doch jedes Mal, wenn ich meinen Pinsel beiseitegelegt habe, war die Erinnerung verflogen.«
»Das Malen ist deine Art von Magie und hat möglicherweise eine Verbindung geistiger Art zu Elvancor hergestellt, die selbst uns Tuavinn fremd ist.« Maredd hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Gebannt hatte Lena zugehört, und als sie antwortete, war es ihr sehr ernst. »Das mit dem Schatz macht nichts, Amelia. Ich muss zugeben, zuerst wollte ich unbedingt Gold und Edelsteine finden. Aber ich glaube, nach Elvancor zu kommen und die wiederzusehen, die man …«, sie räusperte sich, »… die man verloren geglaubt hat, das ist wirklich sehr viel wertvoller als alles andere.«
Ragnars Lächeln war ihr Belohnung genug, und auch Amelia machte einen zufriedenen Eindruck.
»Aber, Amelia«, fiel Lena dann noch ein, »du hast doch damals in dem Brief geschrieben, Maredd hätte die andere Hälfte des Amuletts wieder mit nach Elvancor
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