Das Reich der Schatten
genommen.«
»Nein, hatte er nicht. Ich hoffe, du verzeihst mir, denn ich war eine alte Frau, und meine Erinnerung kam nur bruchstückhaft und verworren zurück. Als ich damals den Brief schrieb, spürte ich zwar, dass sich meine Tage dem Ende zuneigten, aber noch nicht alles, was mit Maredd oder Elvancor zu tun hatte, passte für mich zusammen. Ich schrieb dir den Brief, Lena, weil ich wollte, dass Ragnar jemanden an seiner Seite hat, den ich mochte und dem ich vertraute. Ich dachte, Maredd hätte das Gegenstück zu den versteckten Teilen mitgenommen, aber so war es nicht.«
»Nein«, wandte Maredd ein. »Bei Amelias zweitem Besuch in Elvancor spürte ich, dass sie sich von ihrem alten Leben nicht trennen konnte, wollte ihr für eine Weile ein normales Leben mit ihrem Ehemann und dem Kind ermöglichen und belegte sie deshalb mit dem Vergessenszauber. Ich hoffte, Amelias Erinnerung würde spätestens zurückkehren, wenn ihr Sohn zum Mann geworden ist, dann hätte sie die Teile des Schmuckstücks zusammensetzen und zu mir nach Elvancor gelangen können. Ich sagte ihr nur, sie solle den zweiten Teil des Amuletts gut verstecken, für den Fall, dass ein Rodhakan ihr auf die Spur kommen würde.«
»Und wo hattest du dann das Amulett, das ich neben … ähm, deiner Leiche gefunden habe?«
»Ich hatte es hinter einem Bild versteckt, hinter jenem mit dem Wasserfall. An dem Abend, als ich mein irdisches Dasein beendete, fiel es mir ein. Ich holte es hinter dem Rahmen hervor und ging in den Garten, um auf Maredd zu warten. Tief in meinem Herzen wusste ich, er würde kommen!«
»Und weshalb hattest du das Bild von der Esperhöhle hinter dem mit dem Hirsch versteckt? War das auch eine Vorsichtsmaßnahme?« Die Erinnerung an den völlig verrückten Einbruch bei Ragnars Onkel brachte Lena zum Kichern, und an Amelias Gesicht erkannte sie, dass Ragnar ihr schon davon berichtet hatte, denn sie schmunzelte nun.
»Das war ein dummer Zufall. Als ich jünger war, gab es einige Jahre, in denen mein Mann und ich wenig Geld hatten. Da habe ich neue Bilder über die älteren gespannt, weil ich mir keine Rahmen leisten konnte. Und später habe ich das dann vergessen.«
»Puh, dann haben sich zumindest die meisten Rätsel aus meiner Welt gelöst.« Kopfschüttelnd betrachtete sie Amelia. »Unglaublich, dass du – zumindest für mich – vor ein paar Wochen noch eine alte Frau warst.«
Amelia lächelte den beiden zu, dann fasste sie Maredd an der Hand und ging langsam davon. Nachdem sie mit der Dämmerung verschmolzen waren, saßen sich Lena und Ragnar stumm gegenüber. Sie hatte sich vorgenommen, ihm so viel zu sagen, aber jetzt wusste sie einfach nicht, wie sie beginnen sollte. Daher war sie ganz froh, als Ragnar schließlich das Gespräch eröffnete.
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, gab er zu und sah ihr in die Augen, woraufhin sich ein heftiges Kribbeln in Lenas Magengrube breitmachte. »Hattest du Schwierigkeiten mit Luvett und Everon, diesen Rodhakan?«
»Na ja, irgendwie schon. Aber zum Glück war Maredd bei mir.« Lena stockte, sprach mit heiserer Stimme weiter. »Es war furchtbar, als man mir sagte, du bist tot.«
Nun rutschte Ragnar näher zu ihr heran, seine Finger umschlossen ihre, warm und beruhigend. »Ich hatte die Geister in der Höhle gebeten, dich zu beschützen. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen, denn mir war klar, dass ich nicht mehr lange durchhalten würde.«
»Die Geister«, flüsterte Lena. Jetzt erinnerte sie sich an das seltsame Gefühl, eine Art Barriere zwischen sich und den Rodhakan gespürt zu haben. »Was denkst du, werden Luvett und Everon jetzt tun?«
Ratlos hob Ragnar die Schultern. »Vermutlich auf die Suche nach jemandem wie mir gehen. Aber hab keine Angst, Maredd hat beschlossen, eine Versammlung der Tuavinn einzuberufen, denn sie wollen die beiden in deiner Welt unschädlich machen.«
In meiner Welt , dachte Lena traurig. Früher war es auch deine Welt, Ragnar. Trotzdem freute sich Lena über Maredds Hilfe, denn zu wissen, dass sich gefährliche Wesen nicht weit von ihrem Wohnort herumtrieben, war kein gutes Gefühl. »Dann waren es sicher sie, die die Menschen entführt und den Mann ins Klingloch gestoßen haben.«
Ragnar erschauderte. »Ja, du hast bestimmt recht.Von mir verlangte Everon, diesen armen Mann zu töten, um so das Tor nach Elvancor zu öffnen. Sie wollen weitere ihrer Art in deine Welt bringen, um dort ihr Unwesen zu treiben.«
Bei diesen Worten lief
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