Das Reich der Sieben Städte
längst nicht so alltäglich, wie die Geschichten immer behaupteten. Und es blieben Narben zurück, wenn man wirklich einmal miterlebte, wie Magie zum Einsatz kam. Man fühlte sich plötzlich schrecklich verwundbar, denn man war mit etwas konfrontiert worden, das weit jenseits der eigenen Kontrolle lag. Die Welt wurde schlagartig übersinnlich, tödlich, erschreckend und freudlos. Jener Tag in Unta hatte ihren Platz in der Welt für immer verändert, oder zumindest ihr Gefühl für ihren Platz in der Welt. Er hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht, und sie hatte es seither nie wieder zurückerlangt.
Aber vielleicht war es das auch gar nicht. Oder zumindest nicht das allein. Vielleicht war es das, was ich auf dem Marsch zu den Galeeren erlebt habe, vielleicht war es das Meer der Gesichter, der Sturm aus Hass und sinnloser Wut, die Freimütigkeit und Begierde, Schmerzen zuzufügen, die Gefühle, die so offen in all den eigentlich so normalen Gesichtern geschrieben standen. Vielleicht waren es die Menschen, die mich ins Straucheln gebracht haben.
Sie schaute hinüber zu den abgetrennten Köpfen. Die Augen blinzelten nicht. Sie trockneten allmählich aus, knisterten wie Eiweiß, das auf heiße Pflastersteine spritzt. Wie meine eigenen Augen. Sie haben schon zu viel gesehen. Viel zu viel. Wären genau in diesem Augenblick Dämonen rings um sie her aus dem Wasser aufgestiegen, sie wäre nicht schockiert gewesen; sie hätte sich nur gewundert, dass sie so lange gebraucht hatten, um zu erscheinen – und könntet ihr das Ganze bitte rasch zu Ende bringen? Oh, bitte!
Wahr kam wie ein langgliedriger Affe die Takelage heruntergeklettert und landete leichtfüßig auf dem Deck. Er blieb ganz in ihrer Nähe stehen und fing an, seine Kleidung abzuklopfen, die voller staubiger Seilfasern war. Er war einige Jahre älter als sie, doch in ihren Augen wirkte er viel jünger. Glatte Haut ohne irgendwelche Narben. Die ersten Anzeichen eines Bartes, viel zu klare Augen. Da ist nichts, was an Gallonen Wein erinnert, an Wolken aus Durhang-Rauch, an schwere Leiber, die einander darin ablösten, in mich hineinzustoßen – in etwas, das anfangs verletzlich gewesen war, das aber schon bald Mauern erschaffen hatte, die es von allem Wirklichen, von allem, was zählte, abgrenzten. Es war nur eine Illusion. Ich habe ihnen allen nur die Illusion gegeben, dass sie in mich eindringen könnten. Verstehst du, wovon ich spreche, Wahr?
Er bemerkte ihre Aufmerksamkeit und schenkte ihr ein scheues Lächeln. »Er ist in den Wolken«, sagte er; seine Stimme hatte den typischen, heiseren Klang eines Heranwachsenden.
»Wer...?«
»Der Zauberer. Wie ein Drachen, der nicht an einer Schnur festgemacht ist, fliegt er hierhin und dorthin und zieht dabei Fahnen aus Blut hinter sich her.«
»Wirklich sehr poetisch, Wahr. Aber du solltest doch lieber Soldat bleiben.«
Er wurde rot und wandte sich ab.
Hinter ihr erklang Baudins Stimme. »Der Bursche ist zu gut für dich, und deshalb fängst du an, gemein zu werden.«
»Was weißt du denn schon?«, schnaubte sie, ohne sich umzudrehen.
»Viel kann ich dir nicht weissagen, Schätzchen«, gab er zu. »Aber ein bisschen was schon ...«
»Das hättest du wohl gerne. Sag mir Bescheid, wenn deine Hand zu verfaulen beginnt – ich möchte dabei sein, wenn sie dir abgeschnitten wird.«
Die Ruder klackten kontrapunktisch zum Dröhnen der Trommel. Eine Windböe strich wie ein keuchendes Ausatmen über das Deck, und dann war der Sturm des Zauberers über ihnen.
Etwas Raues kratzte über Fiedlers Stirn und weckte ihn. Er öffnete die Augen und sah sich einem Wald aus Borsten gegenüber, der sich plötzlich ein Stück entfernte und ein dunkelhäutiges, rundliches Gesicht enthüllte, das kritisch auf ihn herabblickte. Das Gesicht beendete die Untersuchung mit einem Ausdruck des Missfallens.
»Da sind Spinnen in deinem Bart... oder Schlimmeres. Kann sie nicht sehen, aber ich weiß, dass sie da sind.«
Der Sappeur holte tief Luft und zuckte stöhnend zusammen, als seine gebrochenen Rippen einen dumpfen Schmerz durch seinen Körper schickten. »Geht weg!«, knurrte er. Stechende Schmerzen in seinen Beinen erinnerten ihn an die Klauen, die seine Oberschenkel zerfleischt hatten. Sein linker Knöchel war dick bandagiert – und das taube Gefühl in seinem Fuß machte ihm Sorgen.
»Das kann ich nicht«, erwiderte der alte Mann. »Eine Flucht ist nicht möglich. Es wurden Abkommen unterzeichnet und Abmachungen getroffen.
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