Das Reich des dunklen Herrschers - 8
einzusehen ich noch nie Gelegenheit hatte. Ich hatte zwar Grund, die Existenz dieser Prophezeiungen zu vermuten, war mir aber nie wirklich sicher, noch wußte ich, was sie besagten. Seit ich hier bin, beschäftige ich mich mit ihnen; dabei bin ich auf Verbindungen zu anderen bekannten Prophezeiungen gestoßen, die uns einst in den Kellergewölben des Palasts der Propheten zur Verfügung standen. Die Prophezeiungen hier füllen einige ausschlaggebende Lücken in den uns bereits bekannten Prophezeiungen.
Das Wichtigste jedoch ist, ich habe einen völlig neuen, mir bisher völlig unbekannten Zweig von Prophezeiungen entdeckt, der erklärt, warum ich gegenüber gewissen Geschehnissen blind gewesen bin. Beim Studium der Gabelungen und Umkehrungen auf diesem Zweig fand ich heraus, daß Richard eine Reihe von Verbindungen benutzt hat, die einem bestimmten Verlauf der Prophezeiungen folgen; einem Verlauf, der in die Vergessenheit führt - in etwas, das, soweit ich es beurteilen kann, gar nicht existiert.«
Nathan, eine Hand auf der Hüfte, während er mit der anderen unsichtbare Linien in die Luft zeichnete, lief beim Sprechen in der winzigen Zelle auf und ab. »Diese neue Verbindung verweist auf Dinge, die ich noch nie zuvor gesehen habe, auf Zweige, von deren Existenz ich zwar stets überzeugt war, die jedoch irgendwie zu fehlen schienen. Diese Zweige entsprechen außergewöhnlich gefährlichen Prophezeiungen, die man hier insgeheim aufbewahrt hatte. Jetzt weiß ich auch, warum. Selbst ich hätte sie, wäre ich vor Jahren auf sie gestoßen, durchaus fehldeuten können. Diese Zweige verweisen auf gewisse Leerräume; da es aber Leerräume sind, entzieht sich ihr Wesen unserer Erkenntnis. Ein solcher Widerspruch ist unauflösbar, weshalb es ihn nicht geben dürfte.
Nun hat Richard sich in den Bereich dieser Leerräume begeben, wo die Prophezeiungen ihn nicht erkennen können; dort können sie weder ihm noch, was schlimmer ist uns helfen. Aber nicht nur das: Es ist, als ob sein Aufenthaltsort und das, was er dort tut, gar nicht existierten.
Richard hat sich auf etwas eingelassen, das die Möglichkeit eines Endes der gesamten uns bekannten Welt in sich birgt.«
Ann wußte, Nathan würde bei einem Problem dieses Ausmaßes niemals übertreiben. Obschon ihr nach wie vor vollkommen schleierhaft war, wovon er eigentlich redete, ließ ihr die kurze Zusammenfassung den kalten Schweiß ausbrechen.
»Und was können wir dagegen tun?«
Nathan warf in einer verzweifelten Geste die Arme in die Luft. »Wir werden diese Leerräume ebenfalls aufsuchen und ihn dort wieder herausholen müssen. Wir müssen ihn in die real existierende Welt zurückholen.«
»Soll heißen, in die laut Prophezeiungen real existierende Welt.«
Die tiefen Furchen auf Nathans Stirn kehrten zurück. »Das sagte ich doch gerade, oder? Wir müssen ihn irgendwie auf den Strang der Prophezeiung zurückbringen, und zwar dort, wo von ihm die Rede ist.«
Ann räusperte sich. »Und wenn uns das nicht gelingt?«
Nathan griff sich erst die Laterne, dann ihr Bündel. »Dann ist er nicht mehr länger Teil der entwicklungsfähigen Linien der Prophezeiungen, was wiederum hieße, er würde nie wieder mit den Dingen dieser Welt zu tun bekommen.«
»Soll das heißen, er wird sterben, wenn es uns nicht gelingt, ihn von dort, wo immer das sein mag, zurückzuholen?«
Nathan musterte sie mit wirrem Blick. »Rede ich eigentlich gegen die Wand? Natürlich würde er sterben! Wenn der Junge den Pfad der Prophezeiungen verläßt wenn er sämtliche Verbindungen zu jenen Prophezeiungen kappt, in denen von ihm die Rede ist, macht er alle Linien der Prophezeiungen ungültig, auf denen er existiert. Damit würden sie zu falschen oder unechten Prophezeiungen, und die Prophezeiungen, in denen von ihm die Rede ist, würden nicht mehr in Erfüllung gehen. In allen anderen Verbindungen ist kein Verweis auf ihn enthalten -weil er auf diesen Linien zuvor stirbt.«
»Und was geschieht auf den Verbindungen, die keinen Verweis auf ihn enthalten?«
Nathan ergriff ihre Hand und zog sie zur Tür hin. »Auf diesen Verbindungen würde sich ein Schatten über alle Menschen legen: auf alle lebenden, jedenfalls. Was folgt, wäre ein sehr lange währendes und sehr düsteres Zeitalter.«
»Augenblick«, sagte Ann und zwang ihn, stehen zu bleiben.
Sie kehrte noch einmal zur Steinbank zurück und plazierte den Rada’Han genau in die Mitte. »Ich habe nicht die Macht, ihn zu vernichten. Deshalb gehört
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