Das Reich des dunklen Herrschers - 8
stimmt. All die Jahre, die ich dich eingesperrt hatte, war mir unwohl zumute, trotzdem habe ich mich nie gefragt, was meine eigentlichen Gründe waren.
Du hast Recht, Nathan. Ich war überzeugt, du besäßest das Potential, großes Unheil anzurichten. Ich hätte dir helfen sollen zu erkennen, was richtig ist, damit du vernünftig hättest handeln können, statt immer nur das Schlimmste von dir zu erwarten und dich einzusperren. Das tut mir leid, Nathan.«
Er stemmte die Hände in die Hüften. »Ist es dir wirklich ernst damit, Ann?«
Sie nickte, unfähig, ihm ins Gesicht zu sehen, während ihr die Tränen in die Augen traten. Von anderen hatte sie stets Ehrlichkeit verlangt, nur zu sich selbst war sie nie aufrichtig gewesen. »Ja, Nathan, es ist mir bitterernst.«
Kaum war ihr Geständnis heraus, schlich sie zu ihrer Bank und ließ sich kraftlos darauf niedersinken. »Ich danke dir, daß du gekommen bist, Nathan. Ich werde dich nicht noch einmal nach hier unten bemühen. Ich werde meine Strafe klaglos akzeptieren. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gern allein sein, um zu beten und über die Schuld nachzudenken, die ich auf mein Gewissen geladen habe.«
»Dafür ist später noch Zeit. Jetzt beweg deinen Hintern, steh auf und pack deine Sachen zusammen. Es gibt Dinge, um die wir uns kümmern müssen, und zwar sofort.«
Ann sah verständnislos zu ihm hoch. »Wie?«
»Wir haben Wichtiges zu erledigen. Komm schon, Frau, wir vergeuden nur unsere Zeit. Wir müssen sofort los. Wir stehen in diesem Kampf auf derselben Seite, Ann. Dann sollten wir auch dementsprechend handeln und gemeinsam für die Wahrung unserer Ziele kämpfen.« Er beugte sich über sie. »Es sei denn, du hast beschlossen, dich zur Ruhe zu setzen und für den Rest deines Lebens hier herumzuhocken. Wenn nicht, sollten wir jetzt aufbrechen. Es gibt Ärger.«
Ann ließ sich von der Steinbank gleiten. »Ärger? Was denn für Ärger?« »Ärger mit einer Prophezeiung.«
»Mit welcher Prophezeiung?«
Die Fäuste in die Hüften gestemmt, bedachte Nathan sie mit einem düsteren Blick. »Darüber darf ich dir nichts sagen. Prophezeiungen sind den Eingeweihten vorbehalten.«
Ann schürzte beleidigt die Lippen, bereit, ihm wegen dieser Frechheit gehörig den Kopf zu waschen, als sie plötzlich ein Lächeln um seine Mundwinkel spielen sah. Es steckte sie augenblicklich an.
»Was ist passiert?«, fragte sie im Tonfall von Freunden, die beschlossen hatten, daß vergangene Reibereien ausgeräumt und die Dinge wieder im Lot waren.
»Du wirst es nicht glauben, wenn ich es dir sage, Ann«, klagte Nathan. »Es ist schon wieder dieser Junge.«
»Richard?«
»Kennst du einen anderen Jungen, der ständig in Schwierigkeiten gerät, in die sich nur Richard bringen kann?«
»Nun, ich betrachte Richard nicht mehr unbedingt als Jungen.«
Nathan stieß einen Seufzer aus. »Vermutlich hast du Recht, aber in meinem Alter fallt es nicht ganz leicht, einen so jungen Burschen als Mann zu sehen.«
»Aber das ist er«, versicherte Ann.
»Ja, ich schätze, das stimmt wohl.« Nathan schmunzelte. »Zudem ist er ein Rahl.«
»Und in welche Schwierigkeiten hat er sich diesmal gebracht?«
Nathans gute Laune verflog im nu. »Er hat den Boden der Prophezeiung verlassen.«
»Was redest du da? Was hat er getan?«
»Ich sage dir, Ann, der Junge hat den Boden der Prophezeiung einfach verlassen und innerhalb der Prophezeiung ein Gebiet betreten, in dem besagte Prophezeiung nicht existiert.«
Ann sah die ernste Sorge auf Nathans Gesicht, doch was er da redete, ergab keinen Sinn; nicht zuletzt deswegen fürchteten sich die Menschen oft vor ihm. Wenn er über Dinge sprach, die außer ihm niemand begriff, gab er den Menschen bisweilen das Gefühl, irgendein völlig unverständliches Zeug daherzureden. Zuweilen vermochte nur ein anderer Prophet in vollem Umfang wirklich nachzuvollziehen, was er erkannt hatte. Mit seinen Augen, den Augen eines Propheten, konnte er Dinge erkennen, die anderen verschlossen blieben.
Sie aber hatte ihr Leben lang mit Prophezeiungen gearbeitet, weswegen sie vermutlich besser als jeder andere seine Gedankengänge, das, was sich ihm offenbarte, nachvollziehen konnte - zumindest bis zu einem gewissen Grad.
»Wie kannst du Kenntnis von einer Prophezeiung haben, Nathan, wenn diese gar nicht existiert? Das begreife ich nicht, erklär es mir.«
»Hier, im Palast des Volkes, gibt es Bibliotheken voller kostbarer Bücher mit Prophezeiungen, die
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