So hell wie der Mond
1
Ihre Kindheit war eine Lüge gewesen.
Ihr Vater ein gemeiner Dieb.
Innerlich kämpfte sie mit diesen beiden Tatsachen, die zu absorbieren, zu analysieren und zu akzeptieren ihr beinahe unmöglich war. Kate Powell hatte sich selbst zu einer beherzten Frau erzogen, die sich die Erreichung ihrer Ziele hartnäckig Schritt für Schritt erarbeitete. Schwanken kam nicht in Frage. Abkürzungen nahm man nicht hin. Erfolg gab es erst nach Planung, Schweiß und Anstrengung.
Das, hatte sie stets geglaubt, war sie, ein Produkt ihres Erbes, ihrer Erziehung und der strengen Maßstäbe, nach denen sie sich selbst beurteilte.
Wenn ein Kind in jungen Jahren beide Eltern verlor, also der Verlust von Vater und Mutter sein Leben regierte – dann schien es, als würde es durch nichts mehr so leicht aus dem Gleichgewicht gebracht.
Aber das stimmte nicht, erkannte Kate, als sie – immer noch wie gelähmt vor Schreck – hinter ihrem aufgeräumten Schreibtisch in ihrem aufgeräumten Büro bei Bittie und Partnern saß.
Auf die frühe Tragödie waren wunderbare Segnungen gefolgt. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte eine andere Familie sie aufgenommen. Die ziemlich entfernte Verwandtschaft hielt Thomas und Susan Templeton nicht davon ab, sie liebevoll zu integrieren, ihr Heim und Liebe zu schenken. Sie hatten ihr alles gegeben, ohne Vorbehalt.
Dabei mussten sie es sicherlich gewusst haben, erkannte sie, ganz sicherlich, und zwar immer schon.
Auch schon, als sie sie nach dem Unfall aus dem Krankenhaus holten, trösteten und mit der Versicherung der Dazugehörigkeit in ihr Haus brachten.
Sie hatten sie ans andere Ende des Kontinents nach Kalifornien geholt. Auf die geschwungenen Klippen von Big Sur. Nach Templeton-House.
Dort, in dem prachtvollen Heim, das ebenso elegant und einladend war wie die Templeton-Hotels, durfte sie Teil ihrer Familie sein.
Sie hatten ihr Laura und Josh, ihre Kinder, als Geschwister geschenkt – nicht zu vergessen Margo Sullivan, die Tochter der Wirtschafterin, die bereits vor Kate mit den eigenen Sprößlingen heranwuchs.
Dann kamen Kleider und Essen, eine Erziehung und zahlreiche Privilegien hinzu. Sie hatten sie Regeln und Disziplin gelehrt und sie ermutigt, ihre Träume zu verwirklichen. Obendrein brachte man ihr Liebe und Stolz auf die Familie bei.
Doch von Anfang an hatten sie gewusst, was ihr über zwanzig Jahre hinweg unbekannt geblieben war.
Ihren Vater hatte man des Diebstahls bezichtigt, angeklagt wegen Veruntreuung. Damals vergriff er sich an den Geldern seiner Kunden, und einzig der Tod bewahrte ihn vor Schande, Ruin und Verurteilung.
Vielleicht hätte sie es niemals erfahren, wäre nicht aufgrund einer Grille des Schicksals ein alter Freund von Lincoln Powell an diesem Morgen in ihrem Büro aufgetaucht.
Er freute sich unglaublich über die Begegnung mit ihr, erinnerte sich noch lebhaft an die kleine Katie. Es hatte ihr das Herz gewärmt, dass jemand sie noch von früher kannte und deshalb mit seinen Angelegenheiten zu ihr kam, weil es alte Bande zwischen ihm und ihren Eltern gab. Sie hatte sich die Zeit genommen und mit ihm geschwatzt, auch wenn sie während der letzten Wochen vor dem fünfzehnten April, dem Abgabetermin sämtlicher Steuererklärungen, vor lauter Arbeit kaum noch Luft bekam.
Dort auf dem Besucherstuhl hatte er gesessen und in Erinnerungen geschwelgt. Seinerzeit habe er sie auf seinen Knien geschaukelt, dieser ehemalige Kollege, der in derselben Werbefirma arbeitete wie ihr Dad. Und deshalb hatte er erklärt, er hoffe, da er nun eine eigene Firma in Kalifornien besaß, sie als Steuerberaterin für das Unternehmen zu gewinnen. Sie hatte ihm gedankt und in ihre Erkundigungen nach seinem Geschäft und seinen finanziellen Verhältnissen Fragen nach ihren Eltern eingestreut.
Dann war sie verstummt, hatte einfach kein Wort mehr herausgebracht, als er wie beiläufig die gegen ihren Vater erhobenen Vorwürfe erwähnte: wie schrecklich, dass ihr Dad gestorben sei, ehe er eine Gelegenheit zur Wiedergutmachung erhielt.
»Er hatte die Gelder nicht wirklich gestohlen, sondern sie lediglich ausgeborgt. Natürlich war das falsch. Ich habe mich immer ein wenig verantwortlich gefühlt, weil ich derjenige war, der ihm von dem Immobiliengeschäft erzählte und ihn überredete, sich daran zu beteiligen. Ich wusste nicht, dass er sein Kapital bereits vorher durch Fehlspekulationen verloren hatte. Bestimmt hätte er das Geld zurückgezahlt. Line war eigentlich recht raffiniert. Trotzdem
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