Das Reich des dunklen Herrschers - 8
Gewöhnlich ging ich dorthin, um sie mir anzusehen, um mir einzureden, daß ich nie so werden wollte wie sie - dabei war mir längst klar, daß es genauso kommen würde: Ich war ein Niemand, menschlicher Abschaum, der nur darauf wartete, im Leben nach dem Tod der Vergessenheit anheim zu fallen. Eine Seele ohne jeden Wert.
Ich setzte mich neben ihn auf die Bank und fragte ihn, warum er mir Geld geschenkt hatte. Statt mich, wie es die meisten gegenüber einem kleinen Jungen getan hätten, mit irgendeiner nichtssagenden Antwort abzuspeisen, erzählte er mir von dem großen Ziel der Menschheit, vom Sinn des Lebens, und daß unser Aufenthalt auf Erden nur ein kurzer Zwischenhalt auf dem Weg zu der Bestimmung war, die der Schöpfer für uns alle ausersehen hat - vorausgesetzt, wir waren stark genug, uns der Herausforderung gewachsen zu zeigen.
Das war alles völlig neu für mich. Ich erzählte ihm, ich glaubte nicht, daß diese Dinge in meinem Leben eine Rolle spielten, schließlich sei ich doch bloß ein kleiner Dieb. Er erwiderte, damit setzte ich mich nur gegen mein ungerechtes Los im Leben zur Wehr; die Menschheit sei gottlos und böse, weil sie mich zu dem gemacht habe, was ich sei, und nur wenn sie meinesgleichen half und sich für mich aufopferte, könne sie auf Erlösung im Leben nach dem Tode hoffen. In diesem Moment öffnete er mir die Augen für die sündhafte Natur des Menschen.
Bevor er ging, wandte er sich noch einmal um und fragte mich, ob ich wisse, wie lange die Ewigkeit dauere. Ich verneinte. Er erklärte, unser elendes Dasein auf Erden sei nichts weiter als ein winziger Augenblick vor unserem Eintritt in die nächste Welt. Das brachte mich zum ersten Mal dazu, wirklich über den höheren Zweck unseres Daseins nachzudenken.
In den darauffolgenden Monaten nahm Bruder Narev sich die Zeit, sich mit mir zu unterhalten, mir von der Schöpfung und der Ewigkeit zu erzählen. Wo ich zuvor nichts besessen hatte, gab er mir die Vision einer möglichen besseren Zukunft. Er lehrte mich, was Selbstaufopferung und Erlösung bedeuteten. Ich hatte geglaubt, zu einer Ewigkeit in Dunkelheit verdammt zu sein, bis er mir zur Erleuchtung verhalf. Er nahm mich bei sich auf - als Gegenleistung mußte ich ihm bei seinen alltäglichen Arbeiten helfen.
Für mich war Bruder Narev Lehrer, Priester, Berater, der Weg zur Erlösung und« - Jagang hob seinen Blick und sah Zedd tief in die Augen - »Großvater in einem.« Nach einer kleinen Pause fuhr Jagang fort: »Er entfachte in mir das Feuer dessen, wozu der Mensch fähig war, fähig sein sollte. Er zeigte mir die unverzeihliche Sünde selbstsüchtiger Gier und das dunkle Nichts, wohin sie die Menschen dereinst führen würde. Mit der Zeit machte er mich zur ausführenden Hand seiner Visionen. Er war die Seele, ich war das Rückgrat und die Muskeln.
Bruder Narev ließ mir die Ehre zuteil werden, die Revolution auszulösen. Er stellte mich ins Zentrum des Aufstands der Menschheit gegen die Unterdrückung der Sündhaftigkeit. Wir waren die neue Hoffnung des Menschengeschlechts, und Bruder Narev persönlich ließ mir die Ehre zuteil werden, seine Vision von den reinigenden Flammen der Erlösung unter die Menschheit zu bringen.«
Jagang ließ sich auf seinem Stuhl nach hinten sinken und fixierte Zedd mit einem Blick, grimmiger, als dieser je einen Blick gesehen hatte.
»In diesem Frühjahr schließlich kam ich - im Gepäck die noble Aufforderung Bruder Narevs an die Menschheit, an all jene, die nie Gelegenheit hatten, die Vision dessen zu sehen, was der Mensch sein konnte, die Vision einer Zukunft ohne den zerstörerischen Einfluß der Magie, ohne Unterdrückung, ohne Habgier und den charakterlosen Trieb, sich über andere zu erheben - nach Aydindril … und was mußte ich dort sehen? Bruder Narevs Haupt aufgespießt auf einer Lanze, daneben ein Zettel mit den Worten: ›Mit besten Empfehlungen von Richard Rahl.‹
Der Mann, den ich am meisten auf dieser Welt bewunderte, der Mann, der uns allen den heiligen Traum der wahren Bestimmung des Menschen in diesem Leben brachte, wie sie uns vom Schöpfer selbst auferlegt worden war - tot, sein Kopf von Eurem Enkelsohn auf einer Lanze aufgespießt.
Wenn es jemals eine ungeheuerlichere Gotteslästerung, ein schwereres Verbrechen an der gesamten Menschheit gegeben hat, so ist mir nichts davon bekannt.«
Dunkle, schwermütige Schatten trieben durch Jagangs völlig schwarze Augen. »Richard Rahl wird Gerechtigkeit widerfahren. Er wird
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