Das Reigate-Rätsel
Aber je mehr ich nachdachte, desto verwirrter erschien mir alles. Ich brütete immer noch über dem Problem, als ich hörte, wie die Tür vorsichtig geöffnet und dann wieder verschlossen wurde. Dann kamen ihre Schritte die Treppe hoch. >Wo in aller Welt bist du gewesen, Effie?< fragte ich, als sie eintrat. Sie zuckte erschrocken zusammen und gab einen kleinen, halberstickten Schrei von sich.
Dieser kleine Schrei und das Zusammenzucken machten mir mehr Kummer als der ganze Rest, denn sie wirkte jetzt so unglaublich schuldig. Meine Frau hatte immer eine offene, ehrliche Art an den Tag gelegt, und mir wurde kalt bei dem Gedanken, daß sie sich in ihr eigenes Zimmer schleichen mußte und aufschreien, wenn ihr Mann sie nur ansprach.
>Du bist wach, Jack!< rief sie mit einem nervösen Lachen, >und ich hab' immer geglaubt, nichts in der Welt könnte dich wecken.<
>Wo bist du gewesen?< fragte ich streng.
>Es wundert mich nicht, daß du überrascht bist<, sagte sie, und ich konnte sehen, daß ihre Finger zitterten, als sie ihren Mantel aufknöpfte. >Ja, wirklich, ich habe wohl auch noch niemals vorher in meinem Leben eine solche Sache gemacht. Ich dachte plötzlich, ich müßte hier in diesem Zimmer ersticken. Ich brauchte dringend frische Luft. Ich glaube, ich wäre ohnmächtig geworden, wenn ich nicht an die frische Luft gegangen wäre. Ich habe eine Weile draußen an der Tür gestanden. Nun geht es mir wieder besser.< Während sie redete, hatte sie mich kein einziges Mal angesehen. Ihre Stimme klang auch nicht, als ob es ihre eigene Stimme war. Mir war klar, daß sie mir eine Lüge auftischte. Ich antwortete nichts, sondern drehte mich um, das Gesicht zur Wand gekehrt. Ich hatte ein elendes Gefühl im Herzen und den Kopf voller böser Verdächtigungen und Vermutungen. Was verbarg meine Frau vor mir? Wohin hatte ihr seltsamer Ausflug sie geführt? Ich wußte, daß ich keinen Frieden finden würde, bevor ich nicht Bescheid wüßte. Und doch wollte ich sie nicht fragen, nachdem sie mir eine ganz offensichtliche Lüge serviert hatte. Den Rest der Nacht verbrachte ich ruhelos. Ich zimmerte mir eine Theorie nach der anderen zurecht, eine immer unwahrscheinlicher als die andere.
Eigentlich hätte ich am nächsten. Tag in die Stadt fahren sollen, aber ich war zu aufgeregt, um an Geschäfte zu denken.
Meine Frau schien genauso unruhig und traurig wie ich selber zu sein, ständig warf sie mir verstohlen kleine fragende Blicke zu. Sie mußte fühlen, daß ich ihrer Aussage nicht glaubte. Jetzt war sie am Ende ihrer Weisheit und wußte nicht mehr, was sie tun sollte. Während des Frühstücks sprachen wir kaum ein Wort miteinander. Danach ging ich aus. Ich wollte versuchen, die Sache an der frischen Morgenluft zu überdenken.
Ich ging bis zum Kristallpalast und spazierte dort wohl eine Stunde lang herum. Gegen ein Uhr war ich wieder zurück in Norbury. Wieder ging ich an der Kate vorbei. Ich blieb einen Augenblick stehen und suchte wieder die Hausfront ab, ob ich wohl wieder einen Blick dieses Gesichtes erhaschen könnte, das mich gestern angestarrt hatte. Als ich noch so dastand, Mr.
Holmes, öffnete sich zu meinem großen Erstaunen die Haustür, und meine Frau kam heraus.
Ich war von diesem Anblick wie vom Donner gerührt. Aber dies war nichts im Vergleich zu dem Schrecken, der sich auf ihrem Gesicht zeigte, als unsere Augen sich trafen. Einen Augenblick glaubte ich, sie wollte umkehren und zurück in das Haus flüchten. Dann muß sie wohl eingesehen haben, daß dies ein nutzloses Versteckspiel wa r. Sie ging auf mich zu, mit weißem Gesicht, Furcht in den Augen und einem verlogenen Lächeln um den Mund.
>Ah, Jack<, sagte sie, >ich habe gerade einmal nachgesehen, ob ich unseren neuen Nachbarn irgendwie helfen kann. Wie siehst du mich denn an? Du bist doch nicht etwa böse auf mich?<
>So<, sagte ich, >und hierher bist du auch in der Nacht gegangen!<
>Was meinst du damit?< rief sie erschrocken.
>Hier warst du also. Ich bin jetzt ganz sicher, daß du hier warst. Was sind das für Leute, die du zu einer solchen Zeit besuchen mußt?<
>Ich bin noch nie vorher hier gewesen.<
>Wie kannst du das sagen, wenn ich doch genau weiß, daß du lügst!< rief ich. >Selbst deine Stimme wird anders, wenn du mit mir redest. Habe ich jemals ein Geheimnis vor dir gehabt? Ich werde jetzt ins Haus gehen und sehen, was hier gespielt wird.<
>Nein, nein, Jack<, rief sie und hatte sich kaum noch unter Kontrolle. Als ich jedoch trotzdem auf die
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