Das Reigate-Rätsel
anzukohlen. Da die rechte Seite angesengt ist, muß er wohl Linkshänder sein. Halten Sie doch einmal die Pfeife an die Lampe.
Sie werden sehen, daß es natürlicherweise die linke Seite ist, die Sie der Flamme entgegenhalten, denn Sie sind ja Rechtshänder. Sie können es wohl gelegentlich einmal anders machen, aber nicht ständig. Das ist immer so gewesen. Und dann hat er durch das bernsteinerne Mundstück hindurchgebissen. Das bringt nur ein Mensch mit einer guten Muskulatur und sehr gesunden Zähnen zustande. Aber wenn ich mich nicht täusche, höre ich ihn auf der Treppe. Sicherlich werden wir von ihm Interessanteres hören, als uns das Studium seiner Pfeife zu bieten hat.«
Einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet, und ein großer, junger Mann kam zu uns ins Zimmer. Er war gut, aber unauffällig in einen dunkelgrauen Anzug gekleidet. Ich schätzte den Mann auf etwa dreißig Jahre, obgleich er wirklich ein paar Jahre älter war.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er, als ob ihm irgend etwas peinlich wäre, »ich denke, ich hätte anklopfen sollen. Tatsache ist, daß ich mit meinen Gedanken völlig bei meinen Sorgen war. Sie müssen das als Entschuldigung gelten lassen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn wie einer, der halb betäubt ist. Dann sank er erschöpft in einen Sessel.
»Ich sehe Ihnen an, daß Sie ein oder zwei Nächte nicht geschlafen haben«, sagte Holmes in seiner leichten und genialen Art, »das ist nervenschädigender als schwere Arbeit oder sogar Vergnügen. Darf ich fragen, wie ich Ihnen helfen kann?«
»Ich brauche dringend Ihren Rat, Sir. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Mein ganzes Leben scheint zusammenzubrechen. «
»Möchten Sie mich als beratenden Detektiv engagieren?« »Nicht alleine das. Ich möchte auch Ihre Meinung hören, Sie sind ein Mann von Welt. Ich möchte wissen, was ich als nächstes tun soll. Ich hoffe auf Gott, daß Sie mir helfen können. « Seine Sätze brachte er stockend und in kleinen, scharfen Stößen hervor. Es schien, als koste allein das Sprechen ihm schmerzliche Überwindung, die er nur mit größter Willensanstrengung über sich brachte.
»Es handelt sich um eine sehr delikate Angelegenheit«, sagte er. »Man spricht nicht gerne zu Fremden von seinen häuslichen Schwierigkeiten. Es ist mir ein gräßlicher Gedanke, daß ich das Benehmen meiner Frau mit zwei Männern diskutieren muß, die ich vorher nie gesehen habe.
Scheußlich, daß ich das tun muß. Aber ich bin am Ende meiner Kraft, ich bin ratlos!«
»Mein lieber Mr. Grant Munro «, begann Sherlock Holmes.
Unser Besucher sprang aus seinem Sessel hoch. »Was, Sie kennen meinen Namen?«
»Wenn Sie Ihr Inkognito wahren möchten«, sagte Holmes lächelnd, »dann sollten Sie nicht Ihren Namen in das Futter Ihres Hutes schreiben. Oder Sie sollten den Hut wenigstens so drehen, daß die Leute, mit denen Sie sprechen, Ihre Adresse nicht lesen können. Ich wollte Ihnen gerade sagen, daß mein Freund und ich uns in diesem Zimmer die Geheimnisse vieler Menschen angehört haben und daß wir zum Glück mancher betrübten Seele Frieden bringen konnten. Ich nehme an, daß wir auch Ihnen helfen können. Da die Zeit nun allerdings kostbar ist, möchte ich Sie bitten, mir die Fakten Ihres Falles ohne weiteres Zögern darzulegen.«
Unser Besucher fuhr sich erneut mit der Hand über die Stirn, als ob ihm das Reden bitterschwer fiele. Aus jeder Geste und jedem seiner Ausdrücke konnte ich entne hmen, daß unser Gegenüber ein reservierter, selbstbeherrschter Mensch war, von Natur aus einen guten Schuß Stolz mitbekommen hatte und eher geneigt war, seine Wunden zu verdecken, als sie offen auszulegen.
Dann, mit einer wilden Geste mit seiner geballten Hand, schien er alle Zurückhaltung von sich zu schleudern und begann:
»Mr. Holmes, die Fakten sind folgende: Ich bin seit drei Jahren verheiratet. In dieser Zeit haben meine Frau und ich einander geliebt und waren uns gegenseitig zugetan, wie es bei Mann und Frau sein sollte. Wir waren das glücklichste Paar, das jemals zusammengeführt worden ist.
Niemals hatten wir Differenzen, nicht eine einzige, weder in Wort noch Tat. Jetzt aber, genau seit dem letzten Montag gibt es eine Barriere zwischen uns. Es scheint da etwas in ihr Leben und in ihre Gedanken gekommen zu sein, das mir so fremd ist, daß sie mir zuweilen wie eine Fremde erscheint, wir könnten uns genauso gut zufällig auf der Straße begegnet sein. Wir sind einander fremd geworden, und
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