Das Reigate-Rätsel
nachbarschaftliches Gefühl. Seit acht Monaten hat diese Kate nun leergestanden. Ich fand das schade, denn es ist ein hübsches, zweistöckiges Häuschen mit einer liebenswerten, altmodischen Eingangspforte, die mit Jelängerjelieber überwachsen ist. Ich habe oft davor gestanden und mir überlegt, was für ein hübsches kleines Heim dieses Häuschen abgeben könnte.
Nun, am letzten Montag führte mich mein Spazierweg wieder dorthin. Ich traf auf einen Lastwagen, dem ich auf den Seitenweg ausweichen mußte. Vor der Kate lagen Teppiche und allerlei Hausrat, was bedeutete, daß das Häuschen nun endlich wieder vermietet worden war. Ich ging vorbei, blieb aber dann stehen und schaute mich um und überlegte mir, wer diese Leute sein könnten, die sich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft niederlassen wollten. Plötzlich gewahrte ich ein Gesicht, das mich aus einem der oberen Fenster beobachtete.
Ich weiß nicht, was es mit diesem Gesicht auf sich hatte, Mr. Holmes, aber mir lief plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken. Ich war zu weit von dem Fenster entfernt, um die Züge recht deutlich zu sehen, aber etwas Unnatürliches und Unmenschliches war da schon in dem Gesicht.
Jedenfalls war das mein erster Eindruck. Ich ging schnell näher, um die Person, die mich beobachtete, nun meinerseits betrachten zu können. Während ich das aber tat, verschwand das Gesicht plötzlich, als habe die Dunkelheit des Zimmers es verschluckt. Ich blieb wohl fünf Minuten so stehen und dachte über dieses Erlebnis na ch. Ich kann nicht sagen, ob das Gesicht einem Mann oder einer Frau gehörte. Seine Farbe hat wohl den größten Eindruck auf mich gemacht. Es war kalkweiß und hatte so festgefrorene Züge, was wohl den Eindruck des Unnatürlichen auf mich vermittelte. Ich war so erschüttert, daß ich mich entschloß, mehr über die Kate und seine Bewohner zu erfahren. Ich ging also hin und klopfte. Mir wurde auch sofort von einer großen Frau mit hartem, abweisendem Gesicht geöffnet.
>Was wünschen Sie?< fragte sie mit dem harten Akzent des Nordens.
>Ich bin Ihr Nachbar von dort drüben<, sagte ich und nickte zu meinem Haus hinüber. >Ich sehe, daß Sie gerade eingezogen sind, und da dachte ich, daß ich Ihnen vielleicht behilflich sein könnte
... <
>Ah, wir werden um Hilfe bitten, wenn wir sie brauchen<, sagte sie und schloß die Tür vor meiner Nase. Ärgerlich über diese Zurückweisung ging ich zu meinem Haus zurück. Den ganzen Abend verfolgte mich die Sache. Zwar versuchte ich, an etwas anderes zu denken, aber das Gesicht am Fenster und die Grobheit der Frau gingen mir nicht aus dem Sinn. Ich nahm mir vor, meiner Frau nichts davon zu erzählen, denn sie ist ein wenig nervös, und ich wollte den ungünstigen Eindruck, den ich empfangen hatte, nicht weitervermitteln. Bevor ich jedoch einschlief, erzählte ich ihr, daß die Kate nun wieder bezogen sei. Sie gab mir darauf keine Antwort. Ich bin im Grunde ein sehr fester Schläfer, und daß mich in der Nacht nichts so leicht wecken kann, ist schon immer ein Witz in meiner Familie gewesen. In dieser Nac ht jedoch schlief ich nicht so fest wie üblich. Die Aufregung über das kleine Abenteuer kann schuld daran gewesen sein. Noch halb in meinen Träumen war ich mir bewußt, daß in meinem Schlafzimmer etwas vor sich ging. Langsam wurde ich jedoch vollends wach und entdeckte, daß meine Frau sich angezogen hatte und nun in Hut und Mantel schlüpfte. Ich hatte schon eine schläfrige Bemerkung über das unzeitige Aufstehen auf den Lippen, als mein Blick auf ihr Gesicht fiel, das vom Licht der Kerze beleuchtet war. Das Staunen machte mich stumm. Niemals vorher hatte ich diesen Ausdruck bei ihr gesehen, ja mir war nicht einmal der Gedanke gekommen, ihr Gesicht könne jemals so aussehen. Sie war totenblaß und atmete heftig. Ängstlich blickte sie zu dem Bett hin, so als wollte sie sichergehen, daß ich sie nicht gehört hätte. Sie schien aber überzeugt, daß ich fest schlief, und schlich geräuschlos zur Tür hinaus. Einen Augenblick später hörte ich einen scharfen Quietschton, der nur von den Angeln unserer Haustür kommen konnte. Ich setzte mich im Bett auf und rieb mir die Knöchel an der Bettkante, um sicher zu sein, daß ich wirklich wach war. Dann zog ich meine Uhr unter dem Kopfkissen hervor. Es war drei Uhr morgens. Was um Himmels willen tat meine Frau um drei Uhr nachts auf der Landstraße?
An die zwanzig Minuten saß ich im Bett und dachte über das Vorgefallene nach.
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