Das Reigate-Rätsel
versehen und sah aus wie die Spielzeugschachtel eines Kindes. Daraus hervor zog er ein völlig zerknittertes Dokument, einen altmodischen Messingschlüssel, eine hölzerne Wäscheklammer, an die ein Bandknäuel befestigt war, und drei alte, rostige Metallscheiben.
»Na, mein Junge, was machen Sie daraus?« sagte er und lächelte über meinen verwunderten Gesichtsausdruck.
»Eine merkwürdige Sammlung.«
»Ja, sehr merkwürdig. Aber die Geschichte, die um diese Dinge herumgewoben ist, ist noch viel merkwürdiger.«
»Ah, es sind also Überbleibsel einer Geschichte?«
»Sie sind eine Geschichte! So wie sie da liegen, bilden sie eine Geschichte. «
»Wie meinen Sie das?«
Sherlock Holmes nahm die Gegenstände einen nach dem anderen aus dem Kästchen und legte sie der Reihe nach auf die Tischkante. Dann setzte er sich wieder und betrachtete die Dinge liebevoll, eines nach dem anderen. Auf sein Gesicht hatte sich ein zufriedenes Lächeln gemalt.
»Dies hier ist übriggeblieben, um mich an das Musgrave-Ritual zu erinnern.«
Diesen Fall hatte er zwar mehrere Male erwähnt, aber es war mir nie gelungen, Einzelheiten zu erfahren. »Es würde mich sehr freuen«, sagte ich, »wenn Sie mir eine Zusammenfassung dieses Falles gäben.«
»Und die Unordnung lassen wir, wie sie ist?« fragte er anzüglich.
»Ihr Sinn für Ordnung ist korrumpierbar, Watson. Aber es würde mich trotzdem freuen, wenn dieser Fall von Ihnen aufgeschrieben würde, denn es gibt darin Punkte, die ihn zu einem einzigartigen Fall in der Kriminalgeschichte machen, sowohl in diesem, als auch in anderen Ländern. Die Sammlung meiner Erfolge wäre in der Tat nicht vollständig, wenn diese einmalige Geschichte fehlte.
Sie erinnern sich sicherlich an die Affäre um die >Gloria Scott und mein Gespräch mit jenem unglücklichen Mann, von dessen Schicksal ich Ihnen erzählt habe. Dieser Fall hat mich auf die Idee gebracht, daß ich mein Hobby zu einem richtigen Le bensberuf aufbauen könnte. Sie kennen mich jetzt, wo mein Name welt-weit bekannt ist, jetzt, da ich sowohl in der Öffentlichkeit bekannt als auch von der Polizei anerkannt bin, jetzt, da ich ein Mann bin, der in jedem zweifelhaften Fall das letzte Wort hat.
Damals, als wir uns kennenlernten, als wir zusammen den Fall behandelten, den Sie dann mit
>Eine Studie in Scharlachrot< überschrieben haben, da war ich auch schon einigermaßen bekannt, wenn ich auch noch nicht so lukrative Verbindungen hatte wie jetzt. Sie können sich aber gar nicht vorstellen, wie schwer für mich der Anfang war, wie lange ich zu warten hatte, bis ich Erfolg hatte und meinen Weg nach oben machen konnte.
Als ich als junger Student nach London gekommen war, hatte ich mir eine Wohnung in der Montague Street in der Nähe des Britischen Museums genommen. Dort wartete ich auf Aufträge.
Die Wartezeit benutzte ich jedoch, um alles zu lernen, was mir für meinen Beruf von noch größerem Nutzen sein könnte. Hin und wieder erhielt ich einen kleinen Fa ll, meist durch die Vermittlung eines Mitstudenten, denn während meines letzten Universitätsjahres erregten meine Methoden unter der Studentenschaft einiges Aufsehen. So kam ich ins Gespräch. Der dritte dieser von Freunden vermittelten Fälle war die Sache mit dem Musgrave-Ritual. Es handelt sich um eine merkwürdige Kette von Ereignissen, die viel Interesse erregten. Damals stand viel auf dem Spiel, und so war die Lösung des Falles der erste Schritt zu der Position, die ich heute einnehme.
Reginald Musgrave studierte im gleichen College wie ich, wir waren aber nur entfernt miteinander bekannt. Unter den Kommilitonen war er nicht sonderlich beliebt, obgleich ich annehme, daß sein Stolz, oder was man dafür hielt, ihm nur dazu diente, seinen etwas schwierigen Charakter zu verdecken. Schon in seiner Gestalt war er der typische Aristokrat, überschlank, mit langer Nase und großen Augen, in seiner ganzen Art eher müde und antriebslos, jedoch immer sehr höflich zu uns. Er stammte tatsächlich aus dem Schoß einer der ältesten Familien unseres Königreiches. Allerdings handelte es sich bei diesem Zweig der Familie um einen jüngeren Zweig, der sich irgendwann im 16. Jahr-hundert aus dem Norden abgesetzt und in West-Sussex niedergelassen hat. Dort jedoch ist das Herrenhaus Hurlstone immer noch das älteste bewohnte Schloß der gesamten Grafschaft. Der Mann schien seinen Geburtsort regelrecht zu verkörpern. Ich konnte mir dieses blasse, scharfgeschnittene Gesicht, die
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