Das Reliquiar
wie verhärmt ihr Gesicht geworden war, als der Künstler den Pinsel halb sinken ließ und sie ansah.
»Seid Ihr müde, Signora?«, fragte er.
»Ja, ein bisschen«, erwiderte Beatrice.
»Dann machen wir eine Pause.« Jacopo legte den Pinsel beiseite und zog ein Tuch über das Bild.
Beatrice näherte sich. »Wann erlaubt Ihr mir, das Gemälde zu sehen?«
»Wenn es fertig ist.«
»Und wenn es mir nicht gefällt?«
»Dann male ich ein anderes.« Jacopo sah sie an und lächelte. Er war groß und gut gebaut, hatte ein attraktives Gesicht mit Zügen, die Entschlossenheit und Kraft verrieten. Doch es waren vor allem die Augen, die Beatrice faszinierten: dunkel und tief, so ausdrucksvoll wie die der Orientalen.
Sie erwiderte sein Lächeln. »Ihr habt einen Fleck auf der Nase, Meister Jacopo«, sagte sie, zog ein kleines Tuch aus dem Ärmel und streckte die Hand aus.
Der Maler hielt sie am Handgelenk fest. »Dieses Tuch ist zu fein, um es zu verderben.«
»Ich habe hunderte davon«, entgegnete Beatrice, ohne dass sie versuchte, ihre Hand aus dem Griff zu befreien.«
Jacopo legte sich ihren Arm vorsichtig um die Taille und zog Beatrice näher. Mit der anderen Hand strich er ihr über das Haar, das unter der Perlenhaube hervorkam, und wickelte sich eine Locke davon um den Finger. »Eines Tages male ich Euch mit offenem Haar«, murmelte er.
Beatrice öffnete halb die Lippen, während ihr Herz schneller schlug und Begehren in ihr aufstieg. Sie zitterte in Jacopos Armen und fühlte sich von einer plötzlichen, bis dahin unbekannten Leidenschaft erfüllt.
Als man Beatrice am nächsten Tag mitteilte, dass der Maler auf sie warte, um die Arbeit an dem Porträt fortzusetzen, ging sie in Reitkleidung zu ihm. Ihr grünes Kleid hatte den gleichen Ton wie ihre Augen, und der mit Pfauenfedern geschmückte Hut gab ihr etwas Sorgloses.
Jacopo musterte sie überrascht. »Wollt Ihr, dass ich Euch in dieser Kleidung male, Signora?«
»Heute möchte ich nicht Modell sitzen«, erwiderte Beatrice mit einem Lächeln. »Lasst uns ausreiten.«
Auf zwei Rössern entfernten sie sich vom Palazzo: weiß Beatrices Stute, schwarz der Hengst von Jacopo. Entgegen dem Willen ihres Gemahls lehnte es Beatrice ab, sich von einer bewaffneten Eskorte begleiten zu lassen; die Einwände des Hauptmanns tat sie mit dem Hinweis ab, dass sie keinen Schutz benötige.
Es dauerte nicht lange, bis die Stadt hinter ihnen lag. Beatrice wählte einen Weg, der in den Wald führte, und trieb ihre Stute zum Galopp an. Jacopo folgte ihr. »Wollt Ihr mir nicht sagen, wohin wir unterwegs sind?«, fragte er, als er zu ihr aufschloss.
»Das werdet Ihr gleich sehen«, erwiderte Beatrice. »Wir sind fast da.«
Weiter vorn führte der Weg auf eine Lichtung, und dort, am Ufer eines dunkelgrünen Teichs, erhoben sich die Ruinen eines heidnischen Tempels, dessen Säulen sich im Wasser spiegelten. Beatrice hielt die Stute an, stieg ab
und führte sie an den Zügeln zur Treppe, die noch fast intakt, aber von Unkraut überwuchert war. Jacopo stieg ebenfalls ab, folgte ihr und sah sich um, beeindruckt von der Schönheit des Ortes.
Nachdem sie die Pferde an einem Baum festgebunden hatten, betraten sie den Tempel. Ein Teil des Daches war eingestürzt, und Streiflicht fiel durch die Lücke auf den Mosaikboden. Überall lag Schutt, und Jacopos Künstlerseele litt, als er sah, in welch verwahrlostem Zustand sich das Meisterwerk unter ihren Füßen befand.
»Warum habt Ihr mich hierhergebracht?«, fragte er.
»Ich wollte, dass Ihr das seht. Ich habe den Tempel vor einiger Zeit durch Zufall entdeckt und war fasziniert von ihm. Spürt Ihr nicht auch den besonderen Zauber dieses Ortes?«
»Ja, ich fühle ihn. Er umgibt uns und erinnert an die Vergangenheit.«
Beatrice trat zum steinernen Altar. »Hier hat man Diana Opfer dargebracht, der Göttin der Jagd.«
»Vielleicht galten die Opfer Venus, der Liebesgöttin«, murmelte Jacopo und näherte sich ihr.
Beatrice nahm den Federhut ab und zog sich die Nadeln aus dem Haar. »Dann lasst uns das Ritual der Liebe vollziehen.«
22
Wewelsburg, 13. November 2006
»Signorina! Hören Sie mich, Signorina?«, rief Gertrud. Sie schüttelte Elena und versuchte, sie zu wecken. »Was ist los mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?«
Elena hörte sie nicht.
Das besorgte Hausmädchen holte Bruno, der sich über Elena beugte, sie zum Sofa trug und sie dort in eine Wolldecke hüllte.
»Was ist mit ihr? Ich habe sie in diesem Zustand gefunden
Weitere Kostenlose Bücher