Das Reliquiar
Vaters Alderico – nach der Zahlung des Lösegelds und vor seiner Freilassung – hatte eine Lücke in der Erbfolge geschaffen. Enrico Brandanti Malaterra, ein ferner Cousin aus einer Seitenlinie der Familie, hatte das Erbe für sich beansprucht und war zum Herrn von Sandriano, Castelrosso und Montalto geworden. Der neue Reichtum hatte es ihm erlaubt, ein wichtiges Bündnis mit den Sforzas zu schließen, und dadurch war Enrico in der Lage gewesen, Olivieros Forderung nach Rückgabe der Lehen und Anerkennung seiner Rechte zurückzuweisen. Er hatte die Gesandten einfach mit dem Hinweis: »Tote können nichts fordern« fortgeschickt.
Auch Oliviero hatte Bündnispartner gesucht und sich in Neapel an den König gewandt, doch Alfons von Aragonien stand mit den Borgias in Verbindung, deren Aufstieg zur Macht er begünstigt hatte, und die Borgias wiederum waren mit den Sforzas verbündet, die Olivieros Rivalen schützten.
Die Mächtigen hatten ihn enttäuscht, aber beim gemeinen Volk sah es anders aus. Es war der täglichen Schikanen und Übergriffe Enricos überdrüssig, hatte sich um Oliviero geschart und geschworen, ihm zu helfen. So war er zum Anführer einer großer Gruppe von Rittern geworden, die der Gerechtigkeit Geltung verschaffen wollten. Und jetzt waren sie bereit für den Kampf.
Bei Sonnenuntergang tobte die Schlacht noch immer, was Oliviero nicht überraschte. Er wusste, dass Enrico
auch Kinder in den Tod geschickt hätte, um den Verlust der Privilegien zu verhindern, auf die er ein Recht zu haben glaubte.
Oliviero hielt den Moment für gekommen, ihm zu zeigen, wer der wahre Herr des Schlosses Sandriano war. Niemand kannte es besser als er, und deshalb wusste er auch um alle seine schwachen Punkte. Einer konnte ihm den Sieg bringen, wenn er klugen Gebrauch davon machte.
Mit einem kleinen Trupp brach Oliviero auf, erreichte die ungeschützte Nordmauer und fand in der dichten Vegetation ein Gitter, an das sich ein schmaler Tunnel anschloss. Er löste das Gitter und zwängte sich in den Gang, begleitet von seinen Männern. Im Licht einer Fackel folgte er dem Verlauf des Tunnels zum Keller, in dem sich die derzeit leeren Zellen befanden, und stieg die Treppe hoch. Als er mit seinen Gefährten den Hof erreichte, war das Durcheinander so groß, dass niemand auf sie achtete.
Oliviero wies zwei Männer an, zur Winde zu eilen, mit der sich das Tor öffnen ließ. Er selbst wartete mit dem Rest der Gruppe. Das Getöse des Kampfes und das Donnern der Rammböcke übertönten das Rattern der Winde und des Fallgatters. Als das Gatter halb nach oben gekommen war, drängten Oliviero und seine Männer in den Durchgang und hoben den schweren Riegel, der das Tor blockierte.
In diesem Moment bemerkte ein feindlicher Soldat die Eindringlinge und schrie.
Enrico hörte die Schreie als Erster und eilte voller Zorn zum Hof.
Zu spät.
Die Rammböcke stießen das Tor auf, und Olivieros Soldaten stürmten ins Schloss. Sie waren wie eine unaufhaltsame menschliche Flut.
Doch Enrico achtete nicht darauf. Mit gezücktem Schwert stand er mitten im Durcheinander und sah, die Augen brennend vor Wut, seinen einen wahren Feind an: Oliviero.
Nach dem ersten wilden Schlagabtausch stießen sie sich gegenseitig zurück, gingen aber sofort wieder zum Angriff über. Ihre Klingen prallten aufeinander, und voller Zorn schlug Enrico immer wieder zu, aber Oliviero parierte seine Hiebe und wich dabei zurück, bis er die Mauer im Rücken fühlte. Enrico holte zu einem Schlag aus, der Oliviero in zwei Hälften geschnitten hätte, wenn er nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen wäre. Als die Schwertklinge auf den Stein traf und Funken stoben, nutzte Oliviero die Gelegenheit zum Gegenangriff. Enrico kämpfte gut, doch er vertraute vor allem auf seine Kraft, ohne die kühle Distanziertheit zu wahren, die bei einem solchen Duell den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen konnte. Trotzdem war er ein beachtlicher Gegner, wie Oliviero unmittelbar darauf zur Kenntnis nehmen musste, als er gezwungen war, weitere Hiebe abzuwehren, und dabei versuchte, Enrico nicht zu nahe herankommen zu lassen. Nach einer Weile merkte er, dass um sie herum Ruhe eingekehrt war – die Verteidiger des Schlosses hatten sich ergeben. Die einzigen Männer, die noch kämpften, waren Enrico und Oliviero.
»Du bist besiegt!«, rief Oliviero und wehrte einen weiteren Vorstoß ab.
Für einen Sekundenbruchteil ließ sich Enrico ablenken, und plötzlich hatte er die
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