Das Reliquiar
Bruderschaft von Schwachköpfen zu halten. Wenn ihr euch nicht zur Flucht entschlossen hättet, wären wir in die Villa eingedrungen.«
»Aber …«
»Schluss damit. Du wirst alles verstehen, wenn der Moment kommt.Wie ich schon sagte, noch bist du nicht so weit.«
21
Konstantinopel, 9. April 1460
Oliviero war schon so lange in der Zelle gefangen, dass er das Gefühl für die Zeit verloren hatte.
Zu Anfang hatte er versucht, die Tage und Wochen zu zählen, doch dann war ihm die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens klar geworden. Es ging vor allem darum, am Leben zu bleiben, und dafür brauchte er seine ganze Kraft, die körperliche ebenso wie die geistige. Tausendmal und noch öfter hatte er bedauert, nicht an Bord der Galeere gestorben zu sein. Er erinnerte sich kaum daran, was nach dem Sieg des Feindes an Bord geschehen war. Irgendwann hatte er sich in Konstantinopel wiedergefunden und war dort zum Sultan geführt worden, der ihm die Freiheit versprach, wenn er bereit sei, zum Islam zu konvertieren. Als Oliviero ablehnte, waren Entbehrungen, Folter und Beleidigungen die Folge. Aber er hatte sich nicht gebeugt. Ganz im Gegenteil: Das Leid schien ihn nur noch stärker und entschlossener zu machen. Er war davon überzeugt, dass Gott in Seiner unermesslichen Weisheit ein ganz bestimmtes Schicksal für ihn vorgesehen hatte, zu dem auch diese Qualen gehörten.
Eines Tages öffnete sich die Tür der Zelle, und zwei Wächter traten ein. Sie packten Oliviero und zerrten ihn ins Zimmer ihres Vorgesetzten, eines sehr kräftig gebauten
Mannes mit langem Schnurrbart. Der Gefangene hatte sich schon damit abgefunden, dass ihn noch mehr Schläge und Schmähungen erwarteten, doch der Kerkermeister verzog voller Abscheu das Gesicht und sagte: »Hauptmann des Ritterordens von Rhodos, du bist frei.«
Oliviero, der während seiner Gefangenschaft etwas Türkisch gelernt hatte, glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. »Was?«
»Ich habe gesagt, du bist frei«, wiederholte der Kerkermeister. »Das Lösegeld ist bezahlt, und hier ist der Befehl für deine Freilassung. Nimm diese sauberen Sachen und geh. Draußen wartet jemand auf dich.«
»Ich bin Enea Dominici und damit beauftragt, Euch nach Rhodos zu bringen. Kommt, zuerst könnt Ihr ein Bad nehmen und neue Sachen anziehen. Anschließend habt Ihr Gelegenheit, mir bei einer Mahlzeit von Eurem Unglück zu erzählen. Unser Schiff sticht nicht vor morgen früh in See, aber wir müssen schon heute Abend an Bord gehen. Heute Nacht könnt Ihr in einem richtigen Bett schlafen.«
Oliviero war wie benommen. Die Leute um ihn herum bewegten sich zu schnell, und alles war zu bunt und zu laut. Er sah den Mann an, der zu ihm gesprochen hatte, und brachte stotternd hervor: »Wie viel Zeit ist seit meiner Gefangennahme vergangen?«
»Fünf Jahre, Signor Brandanti. Es grenzt an ein Wunder, dass Ihr noch lebt. Es hat gedauert, bis die Lösegeldforderung Eure Familie erreichte, und der Orden hat zwischen dem Sultan und Euren Angehörigen vermittelt.
Es ging um eine sehr große Summe, aber zum Glück seid Ihr reich.Vielen anderen war ein weitaus tragischeres Schicksal bestimmt...«
Oliviero hörte gar nicht mehr zu. Ein einziger schmerzvoller Gedanke beherrschte ihn.
Fünf Jahre ...
Wewelsburg, 13. November 2006
Man hatte Elena den ganzen Tag allein gelassen. Ein Hausmädchen namens Gertrud hatte ihr zu essen gebracht und war dann wieder gegangen.
Erschöpft von der Aufregung der vergangenen Tage, war Elena in einen tiefen Schlaf gefallen, erwachte jedoch noch vor dem Morgengrauen. Sie schlug die Decke zurück und ging ins Bad, um etwas Wasser zu trinken. Der Spiegel zeigte das Bild einer sehr blassen Frau mit fahlen Lippen und dunklen Ringen unter den Augen. Seufzend fragte sie sich, ob ihrem Großvater klar gewesen war, was ihr bevorstand, als er sie mit der Suche nach dem Kreuz beauftragt hatte. In Gedanken versunken, beugte sie sich vor, trank, und als sie sich wieder aufrichtete, war im Spiegel noch eine andere Frau zu sehen. Elena drehte sich ruckartig um und glaubte, an Halluzinationen zu leiden.
Aber hinter ihr stand tatsächlich eine Frau, alt und ein wenig gebeugt. »Ich bin Sabine, die Pflegerin der Baronin«, sagte sie in perfektem Italienisch. »Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, aber die Signora hat mir aufgetragen, Sie zu ihr zu bringen. Sie möchte Sie kennenlernen.«
»Die Baronin?«
»Wenn ich bitten darf... Es bleibt nicht viel Zeit. Bald wachen alle
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