Das Reliquiar
auf.«
»Na schön«, willigte Elena verwundert ein.
Sabine ging voraus, aber nicht etwa zur Tür, sondern zu einem geheimen Gang, der es ihr erlaubt hatte, das Zimmer unbemerkt zu betreten: Ein Teil der Wand war in Wirklichkeit eine Tür, die Zugang zu einer steilen Wendeltreppe gewährte. Nach einem endlos langen Aufstieg erreichten die beiden Frauen einen Absatz, an den sich ein recht großer Salon anschloss.
»Die Baronin Elfriede von Odelberg«, sagte die Pflegerin und ging dann.
Elfriede? , dachte Elena und blieb stehen.
»Komm, meine Liebe«, sagte die Baronin. »Lass dich ansehen. Du bist also Elena, Lodovicos Enkelin. Du könntest auch meine Enkelin sein, wenn ich nicht den Fehler gemacht hätte, ihn zu verlassen. Und leider war es nicht mein einziger Fehler. Damals wusste ich nicht, welche schrecklichen Folgen mein Verhalten haben würde.«
Einige Sekunden lang musterte Elena die Baronin stumm. »Ich habe Sie für tot gehalten«, sagte sie dann in einem zögernden Ton.
»Vielleicht wäre mein Tod für alle Beteiligten besser gewesen«, erwiderte Elfriede. »Für deinen Großvater war ich tatsächlich tot.«
»Aber wenn er gar kein Witwer war... Wie konnte er dann wieder heiraten?«
»Die Ehe ist von der Römischen Rota annulliert worden. Das hat ihm Gelegenheit gegeben, deine Großmutter zu heiraten, und ich habe mich auf eine Ehe mit dem
Baron Klaus von Odelberg eingelassen. Meinen Enkel Bruno hast du vermutlich schon kennengelernt.«
»Ja«, bestätigte Elena und schnitt dabei eine Grimasse.
»Er gefällt dir nicht, wie?«, bemerkte die Baronin. »Aber er ist kein böser Junge. Hier ist er praktisch der Einzige, der etwas für mich übrighat. Der Rest der Familie hält mich für verkalkt und verblödet.«
»Weshalb wollten Sie mich sehen, Baronin?«, fragte Elena.
»Warum? Das ist doch klar, meine Liebe: um dir zur Flucht zu verhelfen. Ich will nicht, dass die anderen mit ihrem abscheulichen Projekt Erfolg haben.«
»Flucht aus dieser Festung? Verzeihen Sie mir meine Skepsis, aber...«
»Vertrau mir. Niemand kennt das Schloss und seine Geheimgänge besser als ich. Ich muss alles mit Sabine vorbereiten, doch das dürfte nicht allzu lange dauern. In der Zwischenzeit solltest du so tun, als würdest du dich fügen. Kehr jetzt besser nach unten zurück. Sabine zeigt dir, wie man die verborgene Tür öffnet.«
Wieder in ihrem Zimmer, dachte Elena nach. Konnte sie dieser Frau trauen? Wenn es sich nur um eine weitere Falle von Bruno und seinem Vater handelte? Zugegeben, es war alles andere als beruhigend zu wissen, dass die einzige Chance auf ein Entkommen bei einer alten Frau lag, die an einen Rollstuhl gefesselt und vielleicht nicht ganz bei Sinnen war. Elena musste mit Nicholas darüber reden. Wie konnte sie Bruno dazu bringen, ihr ein Gespräch mit ihm zu ermöglichen?
Die Tür öffnete sich wie als Reaktion auf ihre Gedanken,
und Bruno erschien. »Bist du bereit?«, fragte er mit einem Lächeln.
»Bereit wofür?«, erwiderte Elena.
»Dafür, meinen Vater kennenzulernen und das Laboratorium zu besuchen.«
»Kommt Nicholas mit?«
»Nein. Dieser Besuch bleibt allein dir vorbehalten.«
»Meinetwegen. Aber vorher möchte ich mich vergewissern, dass es ihm gut geht.«
»Mein Wort genügt dir nicht?«
»Willst du wirklich eine Antwort darauf?«
»Na schön, ich führe dich zu ihm, aber nur für einige Minuten.«
Nicholas’ Zimmer war nicht weit von Elenas entfernt. Bruno steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und ging beiseite. »Fünf Minuten, nicht eine mehr«, sagte er.
Nicholas saß mit geschlossenen Augen in einem Sessel, blass und unrasiert, das Haar zerzaust. Er trug einen dicken Pullover und eine ausgebleichte Jeans.
Elena musterte ihn einige Sekunden lang, bevor sie sich ihm näherte und seinen Arm berührte. »Nick...«
Beim Klang ihrer Stimme öffneten sich seine Augen. Er richtete einen ungläubigen Blick auf Elena, stand schnell auf und umarmte sie. So fest drückte er sie an sich, dass ihr der Atem wegblieb, nahm dann ihr Gesicht zwischen die Hände und küsste sie. »Dem Himmel sei Dank«, murmelte er schließlich. »Ich hatte große Angst, dich nicht wiederzusehen. Ich wusste nicht, wo du warst, was mit dir geschehen war...«
Elenas Blick huschte zur angelehnten Tür und kehrte
dann zu Nicholas zurück. »Ich habe keine Zeit für Erklärungen, Nick, aber vielleicht können wir fliehen. Jemand will uns helfen. Bis es so weit ist, müssen wir den
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