Das Rennen zum Mars
mußten sie feststellen, daß in diesem Abschnitt seit vielleicht einer halben Milliarde Jahren keine geologischen Aktivitäten mehr stattgefunden hatten. Dieser erste Monat war eine herbe Enttäuschung gewesen. Doch falls es hier vulkanische Aktivitäten gegeben hatte, dann tat sich vielleicht in der Nähe noch etwas. Sie hatte für anderthalb Jahre an dieser Hoffnung festgehalten, wie ein Ertrinkender sich an einen Strohhalm klammert.
Nun, hier hatte sie ihre vulkanische Erscheinung, bei der es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Fumarole handelte. Und Viktor war ihr schon nach ein paar Minuten zum Opfer gefallen.
Das Habitat – die ehemalige Kommandokapsel – erhob sich auf den stabilen Teleskopbeinen über den Boden. Mit einer Höhe von sieben und einem Durchmesser von acht Metern sah das Habitat aus wie eine riesige Trommel. Sandsäcke auf dem Dach sollten es vor der Strahlung abschirmen. Der in zwei Ebenen unterteilte Innenraum hatte die Fläche eines größeren Apartments. Hier hatten sie die letzten zwanzig Monate zugebracht. Auf den neunzig Quadratmetern gab es kein freies Fleckchen mehr. Nichts für Klaustrophobiker, doch würden sie sich bestimmt hierher zurücksehnen, wenn sie sich erst einmal an Bord der Sardinenbüchse von Retour-Schiff befanden.
Inzwischen kannten Milliarden Fernsehzuschauer und Internet-Surfer das Habitat wie ihre Westentasche. Jeder hatte die Gelegenheit, sie auf ihren Abenteuern zu begleiten, die täglich von der Bodenstation abgestrahlt und in den Abendnachrichten gezeigt wurden. In der ersten Woche nach der Landung registrierte die NASA über hundert Millionen Besuche auf ihrer Internet-Seite. Der Mars war aus dem abstrakten Kosmos herausgelöst und zu einem konkreten Ort geworden.
Raoul und Marc verließen das Habitat, während sie mit den schräg einfallenden Strahlen der untergehenden roten Sonne dort vorfuhr. In den dunklen Druckanzügen wirkten die beiden wie Michelinmännchen. Sie vermochte sie nur auseinanderzuhalten, weil Raoul wegen der Erfrierungen an den Zehen leicht hinkte. Das Ortungssystem hatte sie von der Ankunft des Fahrzeugs informiert.
Dank der Umsicht der Missions-Planer würden sie Viktor nicht hineintragen müssen. Der Rover dockte direkt an der Luftschleuse des Habitats an.
Doch zuerst fand eine kleine Zeremonie statt, die sie sich ausgedacht hatten: sie holten Wasser aus dem Rover. Daß sie einen Verwundeten an Bord hatten, war kein Hinderungsgrund.
Bei der Verbrennung des Methan-Sauerstoff-Gemischs entstanden Kohlendioxid, das vom Motor ausgestoßen wurde, sowie reines Wasser. Rückwärts fuhr sie mit dem Rover an den Kegelstumpf der Wiederaufstiegsstufe heran. Das NASA-Emblem wurde vom Schriftzug MARS CONSORTIUM kaschiert. Meterhohe rote Lettern waren auf weißem Untergrund angeschlagen. Axelrod hatte diese auffällige Verzierung der Nutzlast für nötig gehalten.
Draußen schlossen Raoul und Marc die Wasserkondensatoren an die Zuleitungen an, um das Wasser abzuzapfen und zu speichern.
Die Methan- und Sauerstofftanks waren für den Start gefüllt, doch Wasser war immer willkommen, nachdem sie auf dem langen Hinflug damit hatten knausern müssen.
Sie winkten ihr zu. Die kleinen Rituale eben; die Jungs wollten mit dieser Geste ›Willkommen daheim‹ ausdrücken. Im tristen, rostigen Zwielicht und bei der nächtlichen Kälte, die sich schon durch den Anzug fraß, besaß Symbolik eine um so größere Bedeutung. Der Mars war unwirtlich, kalt und verzieh nicht den geringsten Fehler – und das ließ er sie auch deutlich spüren.
Kapitel 4
April 2015
»Viktor, du solltest mal einen Spaziergang an der frischen Luft machen.«
»Nein, danke.«
Julia ging durch den Raum und setzte sich neben ihn auf die Couch. Er hatte einen russischen Nachrichtensender eingeschaltet.
Thema schien die letzte Regierungsumbildung zu sein. Mit ihren rudimentären Russischkenntnissen reimte Julia sich zusammen, daß der letzte Ministerpräsident für sage und schreibe drei Stunden im Amt gewesen war.
»Du kannst doch nicht die ganze Zeit so schlaff rumhängen.«
»Gemüse hat das Recht, zu erschlaffen. Emanzipation der Pflanzen.«
»Wie wär’s, wenn wir beide zu Axelrod gingen und ihm sagten, wie gut wir zusammenarbeiten …«
»Arbeiten? Reduzierst du unsre Beziehung etwa nur auf ein Arbeitsverhältnis?«
Sie erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Sein Sarkasmus gefiel ihr nicht, und trotzdem tolerierte sie ihn aus einem Grund, über den sie sich
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