Das Riff der roten Haie
Lanei'ta an Jack Willmores Grab gewesen. Jacky, ihr Junge, liebte ihn.
Oft genug fragte er sich, woher die Anziehungskraft kam, die sie auf ihn ausstrahlte. Es war nicht ihre Schönheit, es war diese stille, nach innen gekehrte Ruhe, die sie besaß. Aber es war wohl zuviel geschehen, bei ihr wie bei ihm – jedenfalls fand er trotz des Hai-Erlebnisses an der Bucht nicht die Worte, um auszudrücken, was er empfand. Mehr noch: er blieb in Lanei'tas Nähe so unbeholfen und schüchtern wie am ersten Tag.
Nur Jacky, der streckte die Arme aus, wenn er auftauchte, jubelte, lief auf ihn zu. – Und Lanei'ta lächelte …
***
Am dritten Jahrestag von Rons Ankunft auf Tonu'Ata nahm die umgebaute ›Paradies‹ zur ersten Probefahrt Kurs auf die offene See.
An Bord befanden sich Ron, Hendrik, Tama, Lanei'ta, die beiden Söhne von Tápana und der Häuptling selbst. Es war zwar nicht die ganze vielverzweigte Tápana-Sippe, aber doch ihr Kern.
Ron steuerte die ›Paradies‹ mit ihrem schaukelnden, blauen Käfig am Heck etwas mehr unter Land, um die Stelle zu finden, nach der er Ausschau hielt. Da drüben, am Fuß des steilen Lavahanges, ja, da war es! Nicht weit entfernt, an der Steinplatte, die er nun ganz deutlich im Glas auftauchen sah, war das Beiboot vertäut gewesen, das die Killer an Land gebracht hatte. Dort hatte der dritte gestanden, der, den Gilbert erledigt hatte … ›Estrella – Panama‹ hatte in grünen Buchstaben am Heck gestanden. Und einer der Fischer, der alte Antau, hatte behauptet, er habe weiter südlich ein riesiges, führerloses weißes ›Auslegerkanu‹ gesehen, das die Strömung und der Wind nach Süden trieben, aber es wäre zu weit weg gewesen, um es zu erreichen.
Die meisten hatten die Köpfe geschüttelt. Vielleicht war doch etwas dran? Die Bande mußte schließlich mit einem größeren Boot in die Nähe der Insel gekommen sein. Ein Auslegerkanu? Ein Katamaran vielleicht … Aber sollte er sich darüber den Kopf zerbrechen? Es war passiert und damit Vergangenheit … Dies hier aber war Gegenwart! Hier stand er mit einem kaputten Arm und einem Zukunftsprojekt, das all seine Konzentration erforderte.
Er ging mit dem Boot auf Steuerbord.
»Jetzt gibt es Ton- und Bildproben, Tápana! Wie beim Film.«
»Film?« Tápana wandte den massigen Kopf. Doch Ron hatte weder Zeit noch Lust, einen Inselhäuptling über die Geheimnisse der Filmtechnik aufzuklären. Er hoffte nur eines: daß alles klappen würde. Gestern hatte Hendrik unter seiner Anleitung das Fernsehgerät in die Cockpitecke montiert und es mit der Kabelrolle der Zuleitung zur Videokamera verbunden, die griffbereit von der Käfigecke hing. Das Videoding stammte noch von seinem technikbegeisterten, ersten Aufenthalt in Papeete. Es war eine japanische Unterwasserkamera, die er in der Rue Albert Leboucher bei einem koreanischen Händler für eine Horrorsumme erworben und dann kaum gebraucht hatte.
Falls alles klappte, würde es auch eine Sprechverbindung geben: Jack Willmores wasserdicht verpacktes Kehlkopfmikrophon hatten sie mit einem Kopfhörer an Bord verbunden. Doch ob Hendrik mit seiner Behauptung recht hatte: »Das ist dann genauso wie bei einem Cousteau-Film: Du wirst dich fühlen, als seist du dabei«, daran hatte Ron seine Zweifel.
Er stellte den Motor ab und ließ den Anker fallen. Nach seiner Berechnung hatten sie den Manöverplatz erreicht: Auch hier gab es eine Öffnung im Korallenriff wie in der Bucht. Und auch hier fiel der Felssockel in pyramidenförmigen Stufen in die Tiefe. Der Anker hielt.
Ron drehte sich um und hob die Hand.
Hendrik und Afa'Tolou, der ältere der beiden Tápana-Söhne, kletterten in den Käfig. Hendrik löste Jacks Kehlkopfmikrophon vom Haken und hängte es sich um den Hals.
In dieser Sekunde beneidete Ron ihn und verfluchte noch mehr als sonst sein Handicap.
Es hatte sich als unmöglich herausgestellt, die starke Ankerwinsch der ›Paradies‹ für den Käfigtransport einzusetzen. Jetzt erfüllte der Elektromotor von Burn Philp seinen Zweck. Sie hatten ihn zusammen mit dem Übersetzungsgetriebe an Deck festgeflanscht, und Wa'tau, Afas Bruder, stand bereit, ihn zu bedienen.
Ron senkte den Daumen.
Wa'tau nickte. Der Motor begann zu summen, langsam, ganz langsam verschwand der Käfig im Wasser. Er drehte sich wieder um und setzte den Kopfhörer auf.
Nichts war zu hören als ein feines Knistern. Ihm blieb nur eines: zu warten. Hendrik konnte zwar mit ihm reden, aber er konnte ihn nicht
Weitere Kostenlose Bücher