Das Riff der roten Haie
reinhängt, wenn er muß. Also nehm' ich mir Blinddärme, Gallenblasen, selbst gynäkologische Probleme oder Tumore vor, aber …« Knud Nielsen faltete die Hände auseinander und spielte mit seinem Drehbleistift.
»Bitte, Doktor«, drängte Descartes. »Ist es so schlimm?«
»Schlimm, schlimm … In solchen Fällen sagt man immer: er hat Schwein gehabt. Ein Riesenschwein. Aber so sicher bin ich mir da noch nicht.« Er ließ den Bleistift fallen und beugte sich nach vorne. »Wenn wir rein an den Leuchttisch gehen, dann kann ich's Ihnen an den Röntgenaufnahmen zeigen. Das Schlüsselbein macht keine Probleme, das kann man verdrahten. Und auch die Wunde wird wieder zuheilen. Aber dieser Oberarm-Schußbruch … Die Kugel hat den Knochen total zerfetzt. Dreck und Splitter sind dann in das umliegende Gewebe eingedrungen. Wir müssen sie einzeln wieder rauspulen. Jeden. Daher auch das Fieber. Die Ausschußwunde ist so groß, daß auch dort jede Menge Dreck eindringen konnte. Weiß der Teufel, was das für ein Geschoß war. Sieht aus, als sei die Spitze abgefeilt worden oder irgend so 'ne Schweinerei. Jedenfalls hab' ich so was noch nie gesehen. Gott sei Dank bleiben wir hier von derartigen Fällen auch verschont. – Bisher wenigstens …«
Gilbert sah ihn an. Und weil ihm nichts Rechtes einfiel, nahm er, wie immer in solchen Situationen, seine Brille ab und begann sie zu putzen.
»Das führt mich gleich zu Punkt zwei, Gilbert: Wir müssen Meldung machen. Und zwar der Polizei.«
»Im Augenblick hab' ich andere Sorgen, Doktor.«
»Na, Sie gefallen mir! Kommen hier an, mit einem Schwerverletzten, erzählen mir diese fürchterliche Räubergeschichte von den Piraten, die Ihr Boot überfallen haben, und dann haben Sie's überhaupt nicht mehr eilig mit der Polizei.«
»Was heißt denn Räubergeschichten? Natürlich mach' ich Meldung. Aber im Moment ist es mir wichtiger, zu wissen, wie es mit meinem Freund jetzt weitergehen soll.«
Doktor Nielsen nickte: »Der Arm ist es. Die Schulter ist wirklich kein Problem. Ich hab' Ihnen doch gerade erklärt …«
»Ja, das haben Sie, Doktor.«
»Nein … Nicht ganz. Das Wichtigste wissen Sie noch nicht: Wenn wir dem Mann den Arm erhalten wollen, müssen wir den Knochen wieder aufbauen. Das geht nun mal nur durch eine Nagelung. Verstehen Sie – das Fieber können wir runterdrücken, aber was nützt das? Da muß ein Nagel rein. Und der würde dann auch wieder die Kallusbildung anregen … Aber ich kann das nicht. Ich kann nur darauf warten, bis der Kreislauf wieder stabil ist und dann den Arm abschneiden.«
»Soll das ein Witz sein, Doktor?«
»Ich wollte, es wäre so.«
»Aber Sie brauchen doch gar nicht zu operieren. Sie haben doch Hendrik. Und Hendrik ist hervorragend. Gerade auf diesem Gebiet. Der hat doch auch mein Knie wieder hingekriegt.« Er grinste schief: »Mehr oder weniger hingekriegt, jedenfalls. Aber er ist gut, das weiß ich.«
»Das weiß ich auch. – Aber mit Doktor Hendrik Merz ist nicht zu rechnen.«
»Was, zum Teufel, soll das heißen?«
»Kommen Sie, ich hol' uns einen Whisky.«
Nielsen stand auf, sah über die tiefblaue Wasserfläche, sog die Luft ein und verschwand in seinem Arbeitszimmer. Nach drei Minuten kam er zurück mit einem Tablett, einer Flasche, einem Eisbehälter und zwei Gläsern …
Gilbert schüttelte den kahlen Schädel. »Vielen Dank. Nicht für mich. Nicht jetzt.«
»Na, dann für mich.« Der Chefarzt schenkte sich drei Fingerbreit Whisky ein, griff nach einem Eiswürfel, ließ ihn fallen und nahm einen Schluck pur. »Wenn ich an Hendrik denke, dann brauch' selbst ich das! Hendrik … Eine Tragödie ist das. Eine Schande! Ich weiß, daß Sie ihn sehr mochten, wir alle mochten Doktor Hendrik Merz. Jeder hier, jede Schwester, jeder Patient. Na gut, ich werd's Ihnen erklären …«
Nielsen sprach nicht zu ihm, er sprach, das Gesicht zum Strand zugewandt, und je mehr er sagte, je länger die leise monotone Stimme fortfuhr zu erzählen, desto starrer wurde das runde Gesicht Gilbert Descartes'. Dabei brauchte es doch nur wenige Worte, um zu verstehen: Der junge Chirurg Dr. Hendrik Merz hatte in der Klinik ein Mädchen kennengelernt und sich verliebt, oder, wie es Dr. Knud Nielsen ausdrückte: »Er ist der leider ziemlich weit verbreiteten Illusion erlegen, der Liebe seines Lebens begegnet zu sein.«
Das Objekt dieser Liebe war Mary, eine junge englische Studentin, die auf der Yacht ihrer segelbegeisterten Eltern nach Pangai gekommen
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