Das Riff der roten Haie
kindliche Geste, und es sah aus, als bettle er um Hilfe.
Descartes wollte nach der Hand greifen, da spreizten sich die Finger, wurden zu fünf Krallen, und die Hand schlug nach ihm. In letzter Sekunde konnte er mit einer raschen Drehung des Kopfes vermeiden, daß sie ihn traf.
Hendrik Merz fing an zu zittern, es war ein langsames, konvulsivisches Zittern, das seinen ganzen Körper überlief. Die Hände waren nun zu Fäusten geballt, schlugen auf die Matratze, und aus dem aufgerissenen Mund floß Speichel. Die Zähne klapperten gegeneinander. Schließlich kam die Stimme, ein hohes, gellendes Wimmern zuerst, dann Worte: »… du hast sie gebracht … Du … du hast sie hier reingebracht …«
Descartes überlegte. Eine weitere Ohrfeige? – Nein. »Sieh doch, sie krabbeln dir auf dem Kopf herum … und an den Wänden … überall an den Wänden … Nein …«
Vielleicht war auch das nicht das Richtige, aber Descartes packte die mageren Schultern, schüttelte sie hin und her.
»Nein … nein, bitte … bitte … Sie sind ja an den Wänden, am Boden … seit du da bist … Siehst du nicht …«
»Was, zum Teufel noch mal?«
»Ameisen … Weiße, riesige Ameisen …«
Hendrik Merz krümmte sich, schlug mit den Knien nach ihm: »Ameisen … dort … Schaben … weiß … alle weiß …«
Descartes ließ den zuckenden, um sich schlagenden Körper aufs Bett zurückfallen und wich einige Schritte zurück: Tremens. Alkoholkoller. Was sonst? Solche Szenen kennst du doch. Stefan, der Ukrainer in der Legion, und der Kleine, dieser Algerier, die haben damals Ratten gesehen … Und wenn du nichts unternimmst, wenn er nicht sofort irgendwelche Beruhigungsmittel kriegt, wird's ganz kritisch.
Mein Gott, dachte er, das hast du dir nun wirklich anders vorgestellt …
Descartes lief zur Tür, rannte hinaus, über den grasbewachsenen Weg zum Haupthaus. Die Frau war nirgends mehr zu sehen.
Aber dort oben stand Lansons Jeep.
Der Pater hatte inzwischen gewendet. Ganz gemütlich hockte er hinterm Steuer und rauchte seine Pfeife. Jetzt hatte er Gilbert gesehen und sprang aus dem Wagen.
»Was ist denn …«
»Hören Sie, Pater, der Weg geht fast bis ans Haus. Er ist nur ein bißchen überwachsen, macht ja nichts. Legen Sie den Rückwärtsgang ein, kommen Sie runter, so nah wie möglich.«
»Hendrik?«
»Ja, Hendrik. Geht ihm verdammt dreckig. Er hat eine Alkoholvergiftung oder so was. Er tobt.«
Lanson nickte nur, sprang wieder ins Auto und ließ den Motor an.
Gilbert Descartes rannte zurück. Als er die Tür aufstieß, kam ihm Hendrik Merz auf allen vieren, den Kopf in einem schrecklichen Winkel abgebogen, den Mund weit aufgerissen, entgegen gekrochen.
Er riß ihn auf die Beine, der Kopf pendelte zurück, und er sah mit Schrecken, wie sich die Gesichtshaut jäh zu einem fahlen Wachston veränderte. Aus Hendriks Mund drang ein unverständliches Blubbern, die Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße sichtbar war, und der Körper wurde schlaff.
Kurz entschlossen nahm Gilbert Descartes ihn auf die Arme und trug ihn hinaus, den Weg entlang, dann ein Stück Hang hoch bis zu der Stelle, wo der Jeep auf ihn wartete.
»Jesus bei der Kreuzabnahme«, sagte der Pater erschrocken. »Mein Gott, wie sieht der denn aus?«
Sie versuchten Hendrik gegen die Kühlerhaube zu stellen. Umsonst. Die Beine sackten ihm weg. »Ateminsuffienz.« Lanson strich über das schweißnasse Gesicht. »Ganz kühl ist er schon. Sehen Sie die Hautfarbe. Eine Zyanose. Er hat Sauerstoffmangel im Gewebe. Er braucht sofort Sauerstoff! Los schon … Sie setzen sich auf den Rücksitz, Gilbert, der ist zwar elend klein, aber was macht's. Sie können ihn ja auf dem Schoß halten, nicht?«
Descartes nickte. Nun war er froh, Lanson bei sich zu haben. Er verlor nicht die Nerven und wußte, auf was es ankam. Er hob den Körper in den Wagen. Schwer war er nicht. Dann setzte er sich und nahm den Bewußtlosen wie ein Kind in beide Arme, und der Jeep fuhr ab.
Noch einmal warf Descartes einen Blick in den Rückspiegel. Die Häuser dort unten lagen so verlassen wie zuvor. Niemand war zu sehen …
***
Für den Weg zum ›Sunshine-Lodge‹ hatten sie vierzig Minuten gebraucht, nun schafften sie dieselbe Strecke beinahe in der Hälfte der Zeit. Lanson fuhr wie ein Henker. Und als sie wieder nach Pangai reinkamen und den Pier entlang donnerten, nahm er nur ganz selten den Finger von der Hupe.
Um die Fähre hatten sich inzwischen eine Menge Leute versammelt. Sie stoben
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