Das Riff der roten Haie
hier wohl keine Gäste mehr kamen. Die Hütten befanden sich in einem schauerlichen Zustand. Aus dem Inneren der ersten wuchs Bambus. Und bis auf ein einziges hatten Regen und Wind die Dächer ziemlich zerstört.
»Ich bleibe hier. Gehen Sie ruhig. Ich dreh' nur um.« Descartes nickte.
***
›Sunshine-Lodge‹ stand auf dem Zettel, den Dr. Knud Nielsen ihm gegeben hatte. Nach viel Sonnenschein sah das hier nicht aus. Auf dem Zettel war der Name ›Sione Manukia‹ vermerkt. Und ›Mrs. Manukia‹ konnte er auch auf dem blauen Plastikeimer lesen, der, mit einem Draht an einem Stock angebunden, in halber Höhe des Fußwegs angebracht war und wohl als Briefkasten diente.
Und da war sie nun.
Zunächst hatte er sie gar nicht gesehen. Die vom Wind zerrissenen Blätter einer großen Bananenstaude hatten sie seinem Blick verborgen.
»Wer sind Sie?«
»Guten Tag, Miss Manukia«, sagte Gilbert. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich störe. Mein Name ist Descartes. Gilbert Descartes.«
»Hab' ich nie gehört.«
»Ich komme vom ›König Tupou Hospital‹. Doktor Knud Nielsen hat mich geschickt.« Es war die naheliegendste und wohl auch wirksamste Lüge, die ihm einfiel.
Er lächelte so herzlich, wie es ihm möglich war.
Er hatte eine ganze Menge Lächeln für sie bereit, aber er kam nicht sehr weit damit. Sie schwieg ihn an. Sie war groß, sehr groß für eine Frau von den Inseln. Sie mochte an die fünfzig oder vielleicht älter sein, ihre Haut spannte sich an den breiten Wangenknochen, doch rechts und links der Mundwinkel wies sie viele kleine, wie mit einem feinen Stichel gegrabene Fältchen auf. Die hohen, schön gezeichneten schwarzen Brauen und ihre Haare steckten in einem durchlöcherten, altersdünnen violetten Frotteetuch, das sie als Turban geschlungen hatte. Sie trug Turnschuhe und fleckige, schmutzige Jeans, über die eine blaurot geblümte Nylonbluse hing. Sie war früher gewiß einmal eine hübsche, sehr hübsche Frau gewesen, doch dieses ›früher‹ schien lange her. Das Leben hatte sie mitgenommen ; und was ihre Eitelkeit – falls sie überhaupt noch welche aufbrachte – wohl am meisten traf, war die Tatsache, daß sie gerade noch zwei Schneidezähne besaß. Einen im Unter-, den anderen im Oberkiefer.
Es berührte Descartes, wie sie jedesmal, wenn sie sprach, die Hand vor den Mund nahm: Eine braune, lange Hand mit abgebrochenen, korallrot gefärbten Nägeln.
Nun hatte sie sie wieder oben. »Ich weiß schon … Sie wollen zu Hendrik.«
»Ja. Ich bin ein Freund von ihm.«
»Geht aber nicht.«
»Nein? Ist er nicht da?«
Sie schwieg.
Natürlich war er hier! Seine Nase sagte es ihm. Im Haus befand er sich nicht, gleich dort rechts aber, noch keine dreißig Meter von dem kleinen, mit Muscheln bestreuten Vorplatz entfernt, auf dem sie standen, war eines der Bungalow-Fenster weit geöffnet, und von der Kante des rechten Flügels baumelten schwarzweiß gestreifte Männershorts wie eine Signalfahne. Es war der Bungalow, an dem das Dach noch einigermaßen in Ordnung schien.
»Sie könnten ihm ja Bescheid sagen«, schlug Descartes vor.
»Und warum sollte ich?«
»Richtig. – Ich geh' besser gleich selber rüber.«
»Moment mal«, sagte sie hastig. »Sie müssen das verstehen, Mister. Das geht nicht. Auch wenn ich wollte … Er schmeißt mich raus. Und wenn ich gewußt hätte, wie er sich aufführt – das sag' ich Ihnen, wenn ich nur die kleinste Ahnung gehabt hätte –, dann wäre er nicht hier. Nie … Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich für einen Ärger habe!«
Nein, das konnte er nicht. Er nickte jedoch mitfühlend.
»Sie haben gesagt, Sie sind ein Freund von ihm?«
»Ja.«
»Haben Sie Geld?«
Das verschlug ihm für einen Augenblick die Sprache. Es kam zu abrupt. »Wieso?«
»Wieso, wieso! – Na, Sie sind gut! Weil ich Angst um mein Geld habe. Er ist jetzt schon über elf Tage hier. Er hat mir erst mal dreißig Dollar bezahlt. Das war schon in Ordnung … Aber dann fing's an: Könnten Sie mir nicht eine Flasche Gin mitbringen, Miss Manukia? Und am nächsten Tag: 'ne Flasche Whisky. Und Sie kennen doch die Preise … Ich hab' das dreimal gemacht, dann wurde es mir zu teuer. Und zuviel auch. Aber er wollte das Zeug – unbedingt. Er fing an zu betteln. Er sagte, ich könnte doch im General-Store aufschreiben lassen. Das täten die auch. Und so kam es. Sie kannten ihn schließlich. Ich ließ die Flaschen anschreiben, endlos – aber dann war Schluß. Nix mehr zu machen, sagten
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