Das Rosenhaus
Schlips für ihn gekauft hatte. Letzten
Herbst in London, wo sie sich einen Weg durch die Menschenmengen auf der Oxford
Street gebahnt hatte. Bei dem Gedanken spürte sie einen Stich und einen Anflug
von Heimweh.
Liam beachtete den Toast gar nicht, der auf dem Tisch auf ihn
wartete, trank einen Schluck Kaffee, an dem er sich die Zunge verbrannte,
stellte die Tasse sofort wieder ab und drückte Lily einen schnellen Kuss auf
die Lippen.
Sie lächelte nicht mehr.
»Du willst schon los?«
»Frühstücksmeeting mit Duncan Corday in« – er sah auf die Uhr –
»zwanzig Minuten, Mist, ich bin schon spät dran.«
Er lächelte sie entschuldigend an und wollte gehen.
»Wie viel Schlaf hast du dir eigentlich letzte Nacht gegönnt?« Lily
war sich klar darüber, dass das mehr wie ein Vorwurf denn wie eine besorgte
Frage klang, aber ihm schien das gar nicht aufzufallen. Er stand schon im Flur
und nahm seinen Regenmantel vom Haken.
»Schlaf? Was ist das?«, witzelte er, doch Lily fand das gar nicht
komisch.
Sie folgte ihm in den Flur, wo er sie wie zur Entschädigung noch
einmal küsste, etwas weniger hektisch dieses Mal. Er strich ihr über die
blassen Wangen.
»Ich versuche, heute früher nach Hause zu kommen.«
Er sah sie aufrichtig an, und sie nickte. Sie glaubte ihm, dass er
das wirklich wollte, aber sie hatte kaum Hoffnung, dass es tatsächlich
geschehen würde. Und dann war er wieder weg. Die riesige Haustür fiel langsam
hinter ihm ins Schloss, und Lily war wieder allein in diesem Haus voller
ungeöffneter Kartons und unbegrenzter Möglichkeiten.
Liam war so begeistert gewesen von ihrem neuen Zuhause,
hatte so viele Pläne, wie er es gestalten wollte, wenn sie erst dort wohnten.
Doch bisher waren nur wenige seiner Ideen umgesetzt worden, dazu
fehlte ihm einfach die Zeit. Sie dagegen hatte alle Zeit der Welt. Zeit für
sich. Zeit, nachzudenken. Aber sie wollte nicht nachdenken.
Ihr Leben in London war gut gewesen, und Lily musste feststellen,
dass es ihr mehr fehlte, als sie je für möglich gehalten hätte. Ihr fehlten die
Bequemlichkeiten und die Hektik, ja sogar die vielen Menschen, die dafür
sorgten, dass man nie allein war, auch wenn man sie gar nicht kannte.
Doch am meisten fehlte ihr Liam, der in London von zu Hause aus
gearbeitet hatte.
Es war für sie völlig normal gewesen, dass er immer zu Hause gewesen
war – und jetzt, da er es nicht mehr war, hinterließ er eine riesige Lücke in
ihrem Leben, wie eine offene Wunde. Natürlich hatten sie in London auch Freunde
gehabt, aber sie hatten in letzter Zeit nur selten Gäste eingeladen. Und
Familie hatten sie kaum. Lilys Mutter lebte irgendwo in der Toskana, umgeben
von jungen, gut aussehenden Italienern, und wollte dort am liebsten nie wieder
weg. Liams Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er
achtzehn war.
Zum wiederholten Mal, seit sie hierhergezogen waren, fühlte Lily
sich allein.
Um neun Uhr hatte sie die Überreste ihres viel zu kurzen
gemeinsamen Frühstücks weggeräumt, Teller und Tassen abgewaschen und
abgetrocknet, Liams Toast weggeschmissen. Die Sonne hatte sich erneut hinter
Wolken versteckt, sodass Land und Meer wieder verschmolzen und einem
grau-in-grauen Gemälde glichen.
Na gut, dachte Lily zynisch, immerhin regnet es nicht.
Sie brauchte dringend frische Luft und zog sich ihre Turnschuhe
sowie eine warme Jacke an. Aus Gewohnheit setzte sie sich eine Baseballkappe
auf, die zwar nicht wasserdicht war, aber dennoch irgendwie den Regenschirm
ersetzte. Bei dem starken Wind hier an der Küste hatte ein Regenschirm ohnehin
keinen Zweck, denn wenn man ihn überhaupt aufbekam, stülpte er sich Sekunden
später um.
Sie ignorierte den Ruf des hinteren Gartens und trat zur Haustür
hinaus in den Vorgarten. Von hier führte ein Pfad über die Landzunge. Rechts
herum gelangte man hinunter zu der kleinen Bucht mit dem Leuchtturm und weiter
nach Osten zur großen Bucht, in der seit Jahrhunderten das Fischerdorf Merrien
Cove lag.
Links herum ging man an der Küste entlang gen Westen, dem Ende des
Festlands entgegen. Normalerweise begegnete man da keiner Menschenseele.
Ein paar Schritte geradeaus lockte die Klippenkante lebensmüde
Seelen.
Diesen Küstenpfad beschritt Lily jeden Tag – der Spaziergang war zu
einem Ritual geworden.
Heute wandte sie sich gen Osten. Ihr war nicht wirklich nach
Gesellschaft, aber sie wollte gerne mal ein paar Gesichter sehen. In flottem
Tempo stieg sie den schmalen Pfad zur oberen
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