Das Rosie-Projekt
zurechtkommen müssen. Er weinte.
Früher hätte ich das als bedauerlich, aber irrelevant erachtet. Es war gegen eine Regel verstoßen worden, Punkt. Nun aber war ich selbst jemand, der gegen Regeln verstoßen hatte. Ich hatte es nicht absichtlich getan oder zumindest nicht mit bewusstem Vorsatz. Vielleicht war Kevins Verhalten gleichermaßen unbedacht gewesen.
Ich fragte ihn: »Wie lauten die grundlegenden Argumente gegen den Gebrauch genetisch modifizierten Getreides?« Thema des Aufsatzes waren ethische und juristische Probleme durch den Vormarsch der Genetik gewesen. Kevin lieferte eine detaillierte Zusammenfassung. Ich stellte weitere Fragen, die Kevin ebenfalls hervorragend beantwortete. Er schien sehr gut über das Thema informiert zu sein.
»Warum haben Sie das nicht selbst geschrieben?«, wollte ich wissen.
»Ich bin Naturwissenschaftler. Ich fühle mich unsicher, über ethische und kulturelle Fragen auf Englisch zu schreiben. Ich wollte sichergehen, dass ich nicht durchfalle. Ich habe nicht nachgedacht.«
Ich wusste nicht, was ich ihm darauf antworten sollte. Zu handeln, ohne nachzudenken, war mir ein Gräuel, und ich wollte einen zukünftigen Naturwissenschaftler nicht dazu ermutigen. Ich wollte auch nicht, dass meine eigene Schwäche die richtige Entscheidung bezüglich Kevin beeinträchtigte. Für meinen Fehler würde ich selbst bezahlen müssen, so, wie ich es verdient hatte. Aber meinen Job zu verlieren hätte nicht dieselben Konsequenzen wie ein Universitätsverweis für Kevin. Ich bezweifelte, dass ihm als Alternative eine potentiell lukrative Partnerschaft in einer Cocktailbar angeboten würde.
Ich dachte eine ganze Weile nach, während Kevin einfach nur dasaß. Er musste gemerkt haben, dass ich nach irgendeiner Form der Begnadigung suchte. Aber während ich die Auswirkungen verschiedener Entscheidungen erwog, fühlte ich mich in der Rolle des Richters unglaublich unwohl. Musste die Dekanin jeden Tag so etwas leisten? Zum ersten Mal empfand ich ihr gegenüber Respekt.
Ich war nicht sicher, dass ich das Problem innerhalb kurzer Zeit lösen könnte. Aber mir war klar, dass es grausam wäre, Kevin im Unklaren darüber zu lassen, ob sein Leben zerstört war.
»Ich verstehe …«, begann ich und erkannte, dass ich diese Feststellung im Umgang mit Menschen nicht gewohnt war. Ich hielt inne und dachte noch ein wenig länger nach. »Ich werde eine zusätzlich Aufgabe stellen – wahrscheinlich einen Aufsatz über persönliche Fragen der Ethik. Als Alternative zum Universitätsverweis.«
Kevins Gesichtsausdruck interpretierte ich als ekstatisch.
Mir war bewusst, dass zu gesellschaftlichen Fähigkeiten mehr gehörte, als eine Kaffeebestellung aufgeben zu können und seinem Partner treu zu sein. Seit meiner Schulzeit hatte ich meine Kleidung unter Missachtung der gängigen Mode gewählt. Am Anfang war mir egal gewesen, wie ich aussah, und dann entdeckte ich, dass die Leute meine Art, mich zu kleiden, amüsant fanden. Ich genoss meinen Status als jemand, der sich den gesellschaftlichen Regeln nicht unterwarf. Aber jetzt wusste ich nicht, wie ich mich anziehen sollte.
Ich bat Claudia, mir passende Kleidung zu kaufen – immerhin hatte sie mit der Jeans und dem Hemd bereits guten Geschmack bewiesen. Sie bestand jedoch darauf, dass ich sie begleitete.
»Ich bin vielleicht nicht ewig da«, kommentierte sie. Nach einigem Nachdenken leitete ich daraus ab, dass sie nicht vom Tod sprach, sondern von etwas sehr viel Naheliegenderem: dem Scheitern ihrer Ehe! Ich musste einen Weg finden, Gene auf die drohende Gefahr hinzuweisen.
Das Einkaufen dauerte einen ganzen Vormittag. Wir besuchten diverse Geschäfte und kauften Schuhe, eine Hose, ein Jackett, ein zweites Paar Jeans, mehrere Hemden, einen Gürtel und sogar eine Krawatte.
Ich musste noch etwas anderes einkaufen, wozu ich Claudias Hilfe jedoch nicht mehr benötigte. Ein Foto reichte aus, um meine speziellen Wünsche zu vermitteln. Ich ging zum Optiker, zum Friseur (nicht meinem üblichen) und zum Herrenausstatter. Alle waren extrem hilfsbereit.
Nun waren mein Terminkalender und meine gesellschaftlichen Fähigkeiten innerhalb der von mir veranschlagten Zeit und nach besten Bemühungen auf konventionellen Stand gebracht worden. Das Don-Projekt war beendet. Es wurde Zeit, das Rosie-Projekt zu starten.
An der Innenseite der Spindtür in meinem Büro befand sich ein Spiegel, den ich noch nie gebraucht hatte. Jetzt benutzte ich ihn zur Kontrolle
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