Das Rosie-Projekt
Dann telefonierte ich. Die Dame an der Rezeption war nicht bereit, einen Termin in einer persönlichen Angelegenheit einzuräumen, also buchte ich für 16 Uhr einen offiziellen Termin zur Fitnesskontrolle bei Phil Jarman, Rosies Vater in Anführungszeichen.
Als ich gerade gehen wollte, klopfte die Dekanin und kam einfach in mein Büro. Sie gab mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Das war in meinem Plan nicht vorgesehen, aber heute war ein passender Tag, um diese Phase meines beruflichen Lebens zu beenden.
Schweigend nahmen wir den Fahrstuhl nach unten und durchquerten den Campus bis zu ihrem Büro. Wie es schien, musste unser Gespräch in formeller Umgebung stattfinden. Ich fühlte mich unwohl, was eine rationale Reaktion auf die fast mit Sicherheit bevorstehende Kündigung aufgrund von Regelverstößen aus einer festen Anstellung einer angesehenen Universität war. Doch das hatte ich erwartet – meinen Gefühlen lag eine andere Ursache zugrunde. Die Situation erinnerte mich an meine erste Woche an der Highschool, als ich wegen angeblich unangemessenen Verhaltens in das Büro des Direktors geschickt worden war. Das unangemessene Verhalten bezog sich darauf, dass ich die Religionslehrerin einem strengen Verhör unterzogen hatte. Im Nachhinein begriff ich durchaus, dass sie eigentlich ein netter Mensch gewesen war, aber sie hatte ihre Machtposition gegenüber einem Elfjährigen ausgenutzt und mir damit beträchtliches Leid verursacht.
Der Direktor war halbwegs verständnisvoll, warnte mich jedoch, ich müsse »Respekt« zeigen. Allerdings kam die Warnung zu spät: Als ich sein Büro betrat, hatte ich bereits beschlossen, dass es keinen Sinn hätte, mich anpassen zu wollen. Die nächsten sechs Jahre lang war ich der Klassenclown.
Über dieses Ereignis habe ich oft nachgedacht. Meine Entscheidung damals hatte sich wie eine rationale Reaktion auf meine Einschätzung der neuen Umgebung angefühlt, doch im Nachhinein erkannte ich, dass ich vom Ärger über die Machtstruktur getrieben gewesen war, die meine Argumente nicht anerkannt hatte.
Nun, da ich zum Büro der Dekanin ging, kam mir ein weiterer Gedanke: Was, wenn meine Lehrerin damals eine brillante Theologin gewesen wäre, befähigt, zweitausend Jahre christlicher Lehre wohlartikuliert zu erklären? Dann hätte sie schlagkräftigere Argumente vorbringen können als ein Elfjähriger. Hätte mich das zufriedengestellt? Ich schätze, nicht. Als Naturwissenschaftler, dem wissenschaftliches Denken über alles ging, hätte ich das Gefühl bekommen, dass ich – wie Rosie sagen würde – verarscht würde. Hatte Wunderheiler sich so gefühlt?
War die Sache mit der Flunder eine ebenso abscheuliche Machtdemonstration gewesen wie die meiner damaligen Religionslehrerin,
auch wenn ich recht hatte?
Als ich, wie ich annahm, das letzte Mal vor das Büro der Dekanin trat, fiel mir der voll ausgeschriebene Name an ihrer Tür auf, was ein kleines Rätsel löste.
Professor Charlotte Lawrence.
Ich hatte nie als »Charlie« an sie gedacht, aber vermutlich hatte Simon Lefebvre das getan.
Wir gingen hinein und setzten uns. »Wie ich sehe, tragen Sie Bewerbungskleidung«, sagte sie. »Wie schade, dass Sie es bislang nicht für nötig hielten, uns damit zu beehren.«
Ich antwortete nicht.
»Also. Kein Bericht. Keine Erklärung?«
Wiederum fiel mir kein passender Kommentar ein.
Da erschien Simon Lefebvre im Türrahmen, was offenbar so geplant gewesen war. Er hielt die Dokumente in der Hand, die ich ihm gegeben hatte.
Die Dekanin – Charlie – winkte ihn zu sich, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Wir können Zeit sparen, indem Sie es mir und Simon gemeinsam erklären.«
Noch bevor irgendjemand Weiteres sagen konnte, betrat die persönliche Assistentin der Dekanin, Regina (die durch den Beinamen »die Schöne« nicht objektifiziert werden würde), den Raum.
»Tut mir leid, dass ich Sie störe, Professor«, sagte sie, was mehrdeutig war, da wir allesamt Professorentitel trugen, zumindest noch in den nächsten Minuten, doch aus dem Kontext wurde klar, dass sie die Dekanin meinte. »Ich habe ein Problem mit Ihrer Tischreservierung im
Le Gavroche
. Anscheinend hat man Sie dort von der VIP -Liste gestrichen.«
Im Gesicht der Dekanin war Verärgerung zu lesen, doch sie winkte Regina fort.
Simon Lefebvre lächelte mich an. »Sie hätten mir das hier auch einfach schicken können«, sagte er und wedelte mit den Unterlagen. »Diese Vorstellung des Idiot Savant war überhaupt nicht
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