Das rote Band
hatte. Beschwingt hob er die Holzschwerter auf, die er auf der Tribüne abgelegt hatte und blickte seine Studenten motiviert an. „Genug geplaudert! Wir müssen trainieren.“
Gedankenverloren griff Eloïse nach dem Übungsschwert, das Ian ihr reichte. Ihr Blick war immer noch auf die Tür der Waffenhalle gerichtet. Wieso grenzte Victorian sich stets aus? Und warum in aller Welt setzte ihr das so zu?
Als Eloïse am späten Nachmittag vom Waffentraining zurückkehrte, trat Victorian gerade aus seinem Zimmer.
„Hallo, Victorian, warte mal!“, rief sie ihm zu.
Er blieb stehen. „Oh, habt ihr eure Verbrüderungszeremonie mit dem ehrlosen Fechtmeister schon beendet?“, fragte er spöttisch.
Eloïse stützte die Hände in die Taille. „Warum bist du immer so zynisch?“
„Wenn man nichts erwartet, wird man auch nicht enttäuscht“, erklärte Victorian.
Erschrocken sah Eloïse ihn an. „Das ist eine traurige Lebenseinstellung – und eine einsam machende.“
Victorian runzelte die Stirn. „Was willst du von mir?“
„Ian veranstaltet heute Abend einen Wettbewerb im Bogenschießen in der Waffenhalle“, erzählte sie begeistert. „Den Siegern winkt ein großer Kuchen.“
„ Den Siegern?“ Seiner Erfahrung nach konnte es immer nur einen Gewinner geben.
„Ja, wir treten paarweise gegeneinander an“, erklärte Eloïse. „Da niemand mein Partner sein wollte, dachte ich … ich frage dich! Du bist bestimmt sehr gut, und damit würde meine Aussicht auf den Kuchen enorm steigen“, fügte sie hoffnungsvoll an.
Victorian rieb sich mit der Hand über den Nacken. „Korin, ich weiß nicht, ob ...“
„Du vergeudest deine Worte, Korin!“, rief Raine, der ebenfalls auf dem Weg zu seinem Zimmer war. „Für solche banalen Belustigungen ist sich Seine Gnaden viel zu schade.“
„Bitte, Victorian, wir zeigen es ihnen!“, sagte Eloïse. „Ich bin gar nicht so schlecht mit Pfeil und Bogen.“
Hinter ihnen erklang ein Räuspern. „Entschuldigt die Unterbrechung, Mylords.“ Robert, der Kammerdiener des Burgherrn, war zu ihnen getreten. „Lord Walraven, der Earl lässt anfragen, welche Weinsorte er Euch heute Abend anbieten darf?“
„Oh, Victorian hat ein Tête-à-Tête mit dem Burgherrn!“, rief Raine laut. „Das ist natürlich weitaus besser als ein Wettkampf mit dem gemeinen Volk.“
„So, wie es aussieht, hätte ich mir meine Worte wirklich sparen können.“ Eloïse senkte den Kopf und wandte sich ab.
„Korin!“ Victorian legte die Hand auf ihre Schulter. „Ein anderes Mal vielleicht, ja?“
Sie nickte wortlos und ging zu ihrem Zimmer, und Raine verschwand ebenfalls in seinem Raum.
Victorian sprach noch kurz mit Robert, dann entfernte sich der Diener und er blieb alleine im Gang zurück. Nachdenklich starrte er auf die geschlossenen Türen. Er war es nicht gewohnt, dass man ihn einfach stehen ließ! Aber in Greystone war sowieso einiges anders, als er es gewohnt war. Wenn sein Vater erfahren würde, welchen Bedingungen er hier ausgesetzt war! Aber bei seinem Vater konnte er sich darüber nicht beschweren, es war schwierig genug gewesen, ihn zu überzeugen, Greystone besuchen zu dürfen.
Victorian lehnte sich an die Wand. Die Akademie war der beste Ort, um seinen Interessen nachgehen zu können, und dafür musste er wohl einige Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen: Raines Anwesenheit war lästig, der geächtete Fechtmeister eine Unverschämtheit und Korin war … ja, was eigentlich? Victorian fiel kein Wort ein, welches den jungen Mann treffend beschrieb. Auf der einen Seite ging Korin ihm furchtbar auf die Nerven, auf der anderen Seite würde er gerne mit ihm zum Bogenschießen gehen. Verblüfft über diese plötzliche Erkenntnis schüttelte Victorian den Kopf. Er zog Korins Geschwätz einem ernsthaften Gespräch mit dem Earl vor? Ungläubig griff Victorian nach der Klinke seiner Tür. Er musste wirklich aufpassen, dass das Leben in der Akademie keinen schlechten Einfluss auf ihn nahm!
9
„Wieso habe ich mir das angetan?“, fragte sich Eloïse zum hundertsten Mal, während sie zwischen Bäumen hindurchrannte und über Wurzeln sprang. Ian hatte zur Ergänzung ihrer Waffenübungen einen Waldlauf angeordnet, er sollte die Ausdauer der jungen Männer stärken und ihre Geschicklichkeit schulen. Eloïse sah sich um: Die anderen Studenten wirkten auch nicht begeistert, sich in der Frühe so zu überanstrengen. Und das an einem Samstag, der normalerweise unterrichtsfrei
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