Das rote Band
Köpfe der jungen Männer aus dem See auftauchten. Ian schwamm zu ihnen, legte den Arm um Brendans Oberkörper und zog ihn aus dem Wasser, während Crispin und Morton ans Ufer kraulten.
Das war der Moment! Keiner beachtete sie, und Eloïse schlich davon. Sie würde ein Stück weiter links den Abstieg über die Felsen nehmen und so am Ufer des Sees ankommen. Dann musste sie nur noch ein paar Schritte durchs Wasser waten und wäre bei den anderen.
Eloïse setzte sich auf die Felskante und sah hinunter. Hier fiel die Wand nicht so steil ab wie an der Stelle, wo die anderen sprangen. Viele kleine Steine standen wie Treppenstufen hervor, und Grasbüschel und Wurzelenden boten sich geradezu zum Festhalten an. In Coldhill war sie oft genug den Heuboden hinauf- und hinuntergeklettert, da würde sie das hier mit Leichtigkeit schaffen! Sie drehte sich auf den Bauch und ließ sich langsam nach unten rutschen, bis ihre Füße auf einem Felsvorsprung zum Stehen kamen. Eloïse grinste: Der Anfang war gemacht. Sie löste ihre Hände von der Felsplatte und griff beherzt nach einem kleinen Strauch darunter und biss sich auf die Lippen, als sich Dornen in ihre Haut bohrten. Vorsichtig tastete sie sich mit dem rechten Fuß tiefer. Sie spürte den Widerstand eines Steines unter ihrer Sohle und verlagerte ihr gesamtes Gewicht auf ihr rechtes Bein. In diesem Moment riss der Stein aus dem Fels, und Eloïse sackte nach unten. Ihr linkes Bein rutschte ebenfalls vom Felsvorsprung, und sie klammerte sich mit aller Kraft an den Dornbusch. Blut lief ihr über die Finger, während sie versuchte, mit den Füßen Halt zu finden. Endlich kam sie auf einem Stein zum Stehen. Schwer atmend presste sie sich gegen die Felswand. Ihre Arme schmerzten vor Anstrengung, aber sie konnte nicht aufgeben – es gab keinen anderen Weg! Sie sah sich um und entdeckte eine Wurzel, die in Höhe ihrer Schultern zwischen den Steinen herauswuchs. Verärgert packte sie sie mit beiden Händen, doch die Wurzel gab ein Stück nach, und Eloïse verlor erneut den Halt und schrie auf. Ihre malträtierten Finger umschlossen krampfhaft das Gehölz, und verzweifelt suchte sie mit den Füßen Stand. Die spitzen Felsen stachen durch ihre Kleidung, und die Muskeln in ihren Armen brannten, während ihre Füße Schritte ins Leere machten. Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Gleich würde sie in die Tiefe stürzen, denn sie konnte sich nicht mehr viel länger halten …
„Korin!“
Vorsichtig drehte sie den Kopf und sah Ian, der am Ufer des Sees entlang auf die Stelle zurannte, an der sie hing. Was wollte er tun? Zu ihr zu klettern war unmöglich, und sie auffangen, wenn sie fiel, konnte er auch nicht: Es war zu hoch. Er könnte als Erster meinen Tod feststellen, dachte sie mit Galgenhumor. Inzwischen hatte Ian die Felswand erreicht und begann den Aufstieg. Verflucht, er würde ihretwegen auch noch abstürzen!
Doch Ian stürzte nicht. Stück für Stück arbeitete er sich nach oben und war kurz darauf unter ihr. Er packte ihre Füße und stellte sie auf einen Felsvorsprung.
Eloïse atmete aus und lockerte ihren Griff.
Ian kletterte neben sie und sah ihr ins Gesicht. „Du machst jetzt genau das, was ich sage, verstanden?“
Eloïse nickte.
„Lass mit der rechten Hand die Wurzel los.“
„Nein!“, rief sie angsterfüllt.
„Vertrau mir, ich passe auf dich auf.“
Langsam öffnete sie die Hand.
Ian deutete auf einen Stein. „Hier festhalten.“ Er wartete, bis sie seiner Anweisung gefolgt war und zeigte auf einen weiteren Felsblock. „Linke Hand auf diesen Stein.“ Er kletterte ein Stück nach unten, hob ihren rechten Fuß ab und stellte ihn auf einen Felsvorsprung darunter.
Eloïse verlor jegliches Zeitgefühl. Das Einzige, was sie wahrnahm, war Ians Stimme, der sie wie in Trance folgte. Als ihre Füße ins Wasser tauchten und den sandigen Boden berührten, liefen ihr die Tränen über das Gesicht.
Ian nahm ihren Kopf in seine Hände. „Korin, geht es dir gut?“, wollte er wissen.
Sie schniefte. „Alles in Ordnung.“
Prüfend blickte Ian an ihr herab. „Du blutest am Oberkörper. Das will ich mir ansehen.“ Er begann, ihr Hemd aufzuknöpfen.
Augenblicklich kam Eloïse wieder zu sich. „Lass mich!“, rief sie und stieß ihn mit beiden Händen von sich weg. Sie wollte davonlaufen, doch sie taumelte im Uferschlamm.
Ian sprang vor und fing sie auf.
„Nein!“, schrie sie vollkommen außer sich und wand sich aus seinen Armen. „Fass mich nie wieder
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