Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
zurückgeschossen». Eine streng formalistische Betrachtungsweise barg in der Tat die Gefahr, dass die humanitären Schutznormen in der realen Welt der gewaltsamen Auseinandersetzungen einen Großteil ihres Anwendungsbereiches verlieren könnten. Und so war es aus derOpferperspektive sicher eine weise Entscheidung, dass im Genfer Recht seit 1949 ausschließlich der weite und historisch unbelastete Begriff des bewaffneten, internationalen oder nicht internationalen Konflikts Verwendung findet. Für die beiden zentralen Themenkomplexe ‹Schutz der Zivilbevölkerung› und ‹Opfer nichtinternationaler Konflikte› ergänzt und erweitert durch zwei Zusatzprotokolle von 1977, bilden die Genfer Abkommen von 1949 bis heute das universell anerkannte Fundament des Humanitären Völkerrechts. Alle Staaten der Welt sind diesen Verträgen beigetragen: Außer der UN-Charta selbst kann kein Vertrag dieser Welt eine solche Erfolgsbilanz vorweisen.
Und natürlich versäumte es das Genfer Komitee anlässlich dieser grundlegenden Vertragsrevision nicht, auch seine eigene Stellung im Humanitären Völkerrecht zu stärken und damit zumindest indirekt natürlich auch diejenige innerhalb der humanitären Weltbewegung selbst. In den durchaus stolzen Worten des damaligen IKRK-Direktors Jean Pictet, der wohl zu Recht als geistiger Vater der Konventionen von 1949 bezeichnet wird: «Die Stellung des IKRK ist nun fest im Völkerrecht verankert und seine Rolle zum Schutz der Kriegsopfer von der gesamten Staatengemeinschaft voll anerkannt.» In der Tat, nicht weniger als 60 Konventionsartikel erwähnen das IKRK oder die zentrale Auskunftsstelle. Eine gelungene Kompensation dafür, dass man in der UN-Charta selbst keine Erwähnung gefunden hatte, anders als 25 Jahre zuvor in der Völkerbundsatzung. Immerhin hatte die UN-Generalversammlung in einer Resolution vom 19. November 1946 die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, die friedensfördernde und völkerverständigende Arbeit der nationalen Rotkreuzgesellschaften nach Kräften zu unterstützen, und später auch die Liga als deren internationale Repräsentantin in diesen Appell einbezogen. Unerwähnt geblieben war allerdings das Internationale Komitee. Auch für die Beziehungen innerhalb der Rotkreuzbewegung deutete sich hier bereits eine neue Konfliktlinie an: Die Liga (seit 1991 «Föderation») machte dem IKRK zunehmend Kompetenzen, ja den Führungsanspruch streitig und zumindest die großen nationalen Gesellschaften begannenihrerseits, auch auf internationaler Ebene zunehmend selbstbewusst und eigenständig humanitäre Aktivitäten zu entfalten. Und so sollte die Neujustierung des institutionellen Gleichgewichts für die nächsten Jahrzehnte zu einem Dauerthema innerhalb der Rotkreuzbewegung werden.
Traditionelle Schutz- und Hilfstätigkeit. Es ist wohl fast müßig zu erwähnen, dass das IKRK schon sehr rasch gezwungen war, auch seine traditionelle Schutz- und Hilfstätigkeit in bewaffneten Konflikten wiederaufzunehmen. Eine herausragende Stellung nahm dabei das bereits kurz nach Kriegsende einsetzende und bis auf den heutigen Tag unverändert andauernde besondere Engagement im Nahostkonflikt ein. Auch von westlichen Staaten (darunter den USA) sowie einflussreichen Persönlichkeiten wie Graf Bernadotte, Präsident des Schwedischen Roten Kreuzes, sah sich das Komitee wegen seiner passiven Rolle gegenüber den Naziverbrechen und seiner Abhängigkeit von der Schweizer Politik heftiger Kritik ausgesetzt. Daher bot sich ihm hier nicht nur eine Chance zur Rehabilitation. Auch innerhalb der Rotkreuzbewegung konnte man so seine Unverzichtbarkeit unter Beweis stellen. Diese Chance hat das IKRK genutzt. Von 1950 bis 1953 folgte dann ein deutlich bescheidenerer Einsatz im Koreakrieg. Überflüssig geworden war das IKRK nicht, ganz im Gegenteil.
8. Das Rote Kreuz nach 1945: Humanitäres Engagement in einer sich wandelnden Welt
Die Bedürfnisse des bedrängten Menschen in Krieg und Frieden ändern sich wenig; die Rahmenbedingungen, unter denen humanitäre Hilfe möglich ist, indes sehr wohl, zumal in einem internationalen Kontext. Mit drei Stichworten lassen sich die wohl wichtigsten Faktoren benennen, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidenden Einfluss auf die Arbeit des IKRK, aber auch der anderen Glieder der Rotkreuzbewegung genommen haben: Ost-West-Konflikt, Dekolonisierung sowie Multilateralismus und internationale Zusammenarbeit.
Ost-West-Konflikt. Die kommunistische
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