Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
der Suezkrise (1956/57) über den Algerienkrieg (1954–1962), die kriegerischen Nachwehen der Unabhängigkeit in vielen Teilen Afrikas, aber auch Indochinas sowie bürgerkriegsähnlichen Zuständen vom Jemen (1962–1970) bis in die Dominikanische Republik (1965) reichte nunmehr das Einsatzgebiet. Ganz neue Fähigkeiten auf dem Gebiet der Diplomatie, der Logistik, Kommunikation und Ausbildung (Sprachkenntnisse) waren gefordert. Weitab von der Zentrale, in seinen humanitären Aktivitäten vielfach vollkommen auf sich allein gestellt, hat die Institution des IKRK-Delegierten in diesen Konflikten ihre Schlüsselfunktion für das Wirken des Genfer Komitees bestätigen und festigen können. Lokal bestens vernetzt, sehr selbstständig und mit weitgehenden Freiheiten ausgestattet, war etwa ein Mann wie Geoffrey Cassian Senn, geboren 1898 in Mosnang im Kanton Sankt Gallen, für eine volle Dekade (1960–1970) erfolgreich für das IKRK in den Krisenherden Südrhodesien, Kongo, Kenia und Burundi/Ruanda tätig. Nicht immer gelang die kulturelle Anpassung offensichtlich so gut wie in diesem Fall. Dem vorübergehend als IKRK-Delegierten tätigen früheren UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Auguste Lindt, gelang es zwar während des Biafrakrieges (1967–1970), trotz widrigster Umstände umfangreiche materielle Hilfe für die notleidende Zivilbevölkerung zu organisieren. 1969 wurde Lindt allerdings von Nigeria als unerwünschte Person des Landes verwiesen: Anrüchiger Lebenswandel und neokoloniales Auftreten sollen wesentlich zu dieser Entscheidung beigetragen haben.
Die kaltblütige Ermordung von sechs IKRK-Delegierten in einem Krankenhaus in Tschetschenien (1996) zeigt, dass die in 100 Jahren mühevoller humanitärer Arbeit gefestigte und selbst in den dunkelsten Stunden des Zweiten Weltkrieges in Europa geachtete Funktion des Roten Kreuzes als eines neutralen und damit schützenswerten humanitären Akteurs noch weit davon entfernt ist, wirklich universelle Anerkennung gefunden zu haben. Die zunehmende Gefährdung der IKRK-Delegierten, aberauch eine allgemeine Erschwerung der Bedingungen, unter denen humanitäre Arbeit erfolgreich möglich ist, hängt sicher auch mit der sprunghaft ansteigenden Zahl sog. kleiner Kriege zusammen. Statt im Humanitären Völkerrecht zumindest einigermaßen gut ausgebildeten staatlichen Armeen stehen die Rotkreuzhelfer zunehmend nichtstaatlichen Akteuren gegenüber, deren Führungsstrukturen oft unklar und deren Verpflichtung auf anerkannte Grundsätze der Kriegführung weitaus schwieriger ist. Die Liste von neuen Akteuren, bei denen das IKRK oft genug mühsam um die Anerkennung seiner Rolle werben musste und muss, ist lang. Dass man sich mit der Schulung von Taliban-Kämpfern im Humanitären Völkerrecht nicht nur Freunde macht, liegt gleichfalls auf der Hand.
Die Zunahme dieser «kleinen Kriege» sowie ganz neue Formen der Kriegführung, welche Zivilbevölkerung und Umwelt einer 1949 noch unbekannten Gefährdung aussetzen, bewogen das IKRK bereits 1969 dazu, «konkrete Vorschläge zur Vervollständigung des humanitären Rechts auszuarbeiten». Eine in zweierlei Hinsicht erfolgreiche Initiative: Nicht nur konnten mit den beiden Zusatzprotokollen von 1977 tatsächlich empfindliche normative Lücken geschlossen werden. Es war dies vielmehr auch das erste Mal, dass tatsächlich die gesamte Völkerrechtsgemeinschaft am Verhandlungstisch präsent war. Waren die überkommenen Grundsätze des Humanitären Völkerrechts wirklich im weltweiten Rahmen konsensfähig? Ja, sie waren es und es muss zu den bleibenden Verdiensten des IKRK und seiner Verbündeten in der Staatenwelt gezählt werden, dass das in den konfliktträchtigen, vom Ost-West-Gegensatz überlagerten Nord-Süd-Beziehungen akut bedrohte Diskriminierungsverbot als fundamentaler Pfeiler des Humanitären Völkerrechts nicht nur erhalten blieb, sondern sogar ausdrücklich bestätigt wurde. Allen Kriegsopfern, ob in Nordvietnam gefangener US-Pilot oder Freiheitskämpfer in Angola, sollte auch zukünftig von Rechts wegen und unabhängig von der politischen oder ideologischen Bewertung der Konfliktparteien, gleicher Schutz zukommen. Die ein wenig systemwidrige Aufwertung des sog. Befreiungskrieges war demgegenüber nur eine kleine und – wiesich auch im Nachhinein erwiesen hat – ohne Weiteres akzeptable Konzession.
Multilateralismus und internationale Zusammenarbeit. Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Rotkreuzbewegung
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