Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
Kriegsgefangenen richten, sondern insoweit auch bereits ein eigenes Aktionsprogramm vorlegen. Ein Kernelement war hierbei sicher die Ankündigung der Einrichtung einer zentralen Auskunftsstelle für Kriegsgefangene, die – im Verbund mit den von der Genfer Konvention geforderten nationalen Zentralstellen – Schicksale aufklären und Hilfe für die Angehörigen dieser rasch viele Millionen Personen umfassenden Personengruppe leisten sollte. Die Erfolgsbilanz dieser Agentur, die ihre Arbeit alsbald im Genfer «Palais du Conseil Général» aufnahm und deren Personal bis Kriegsende auf über 2500 Personen anwachsen sollte, ist beeindruckend und durch bloßes Zahlenmaterial kaum angemessen zu würdigen. Natürlich erhöhte materielle Hilfe die Überlebenschancen. Fast ebenso wichtig aber war diepositive psychologische, den Überlebenswillen steigernde Wirkung, welche die Öffnung von Kommunikationskanälen auf die Kriegsgefangenen ausübte. Allein das für persönliche Nachrichten mit einer maximalen Länge von 25 Worten vorgesehene «Formular 61» öffnete ein fast 24 Millionen Mal genutztes Fenster in die Heimat. Unzweifelhaft war die Sorge um die Kriegsgefangenen – und die diesen dank einer Genfer Initiative gleichgestellten Zivilinternierten – dem IKRK ein besonderes Anliegen, nicht nur weil sie auf solidem völkerrechtlichen Grund stand. Umso bitterer war es für das Komitee, dass es nicht allen Angehörigen dieser Opfergruppe in gleichem Maße Hilfe leisten konnte. Eine in gewisser Hinsicht bizarr anmutende Sensibilität des NS-Regimes gegenüber seinen internationalen Vertragspflichten führte dazu, dass sich Deutschland im Verhältnis zu den alliierten Mächten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit durchaus an die Regeln der Genfer Konventionen gebunden fühlte. Gegenüber den Gefangenen aus der Sowjetunion und Polen aber herrschte schlichtweg humanitäre Skrupellosigkeit: Die Sowjetunion habe die Genfer Konvention nicht ratifiziert und Polen als Staat aufgehört zu existieren. Der Bericht des IKRK-Delegierten Marti an das IKRK über seine zufällige Beobachtung der Ankunft russischer Kriegsgefangener in Pommern im September 1941 war in der Tat erschütternd: «Der Anblick der meisten Gefangenen war schrecklich: Wahrhaft wandelnde Leichen […] verängstigte Skelette […] die in ihren Gruppen Sterbende mit sich schleppen.» Alle Versuche des Roten Kreuzes, hier Abhilfe zu schaffen – etwa durch den Abschluss eines bilateralen Kriegsgefangenenabkommens –, scheiterten. Und so waren bereits nach wenigen Monaten von den 3,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen fast die Hälfte an Hunger und Fleckfieber gestorben – ganz zu schweigen von den Massenmorden an «in politisch, krimineller oder sonstiger Hinsicht untragbare(n) Elementen» (sog. Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941).
Auch Bemühungen zugunsten der Zivilbevölkerung hatte das IKRK bereits mit dem Appell vom 2. September 1939 eingeleitet, wohl wissend, dass es hierfür (nach wie vor) an einer vertraglichenGrundlage fehlte. Der 1934 auf der XV. Rotkreuzkonferenz beschlossene Vertragsentwurf (sog. Tokyo-Projekt) war ein solcher geblieben. Dies sollte das IKRK aber nicht daran hindern, die Staaten immer wieder eindringlich an den Inhalt dieses doch von ihnen selbst mitgetragenen Dokumentes zu erinnern. Von allen Seiten folgten humanitäre Lippenbekenntnisse, Taten weniger. Wohl erstmals in der Geschichte des modernen Krieges machten Bombenkrieg und andere Methoden der Kriegführung, die sich nicht auf militärische Ziele beschränkten, die Zivilbevölkerung zum Hauptleidtragenden der Kampfhandlungen. Auch weitere dringliche, ja dramatische Aufrufe des IKRK, wie derjenige vom Mai 1940 (sog. Pfingstappell), vermochten hieran wenig zu ändern:
«Angesichts der ständigen Verschärfung des gegenwärtigen Konflikts beschwört das Internationale Komitee vom Roten Kreuz die kriegführenden Parteien, von Angriffen gegen Personen Abstand zu nehmen, die als Nichtkämpfende vor den Leiden des Krieges verschont bleiben müßten.
Gewiss es ist die erste Pflicht des Roten Kreuzes, den Verwundeten, Kranken und Gefangenen der kriegführenden Armeen beizustehen, aber es genügt nicht, die Wunden zu verbinden, sie müssen auch allen jenen erspart bleiben, die in keiner Weise an den Kampfhandlungen beteiligt sind und das Recht haben, nicht von ihnen in Mitleidenschaft gezogen zu werden.
Im Namen der Menschenwürde vertritt das Internationale
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