Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
Staatenwelt betrachtete das IKRK von Anfang an mit Misstrauen. So warf die Sowjetunion dem Komitee und seinen führenden Repräsentanten vor, eine Institution der Bourgeoisie mit fester Verankerung in der bürgerlich-liberalen Gedankenwelt des Westens zu sein – eine wohl nicht ganz unzutreffende Charakterisierung. Auch die Nähe zur Schweizer Politik war der östlichen Supermacht suspekt. Nicht vergessen hatte man in Moskau, dass ein IKRK-Mitglied, der katholisch-konservative Giuseppe Motta, in seiner Funktion als Außenminister dafür gesorgt hatte, dass die Schweiz 1934 als einer der wenigen Staaten gegen die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund votiert hatte. Schwerer traf die Genfer Institution der Vorwurf, im Zweiten Weltkrieg und auch bereits im Spanischen Bürgerkrieg profaschistisch und prodeutsch agiert zu haben. Und eine diplomatische Ungeschicklichkeit, durch die im Koreakrieg eine allzu große Nähe zur US-Politik offenbar wurde, ließ schließlich China und Nordkorea an der Neutralität des Komitees zweifeln und verschloss diesem damit für Jahrzehnte den Zugang zum kommunistischen Machtbereich in Fernost. Ob auch ideologische Gründe zur Dis tanz der kommunistischen Welt gegenüber der internationalen Rotkreuzbewegung beigetragen haben – die humanitären Interessen des Individuums als nachrangig gegenüber dem Interesse des Kollektivs am Endsieg des Proletariats –, mag dahingestellt bleiben. Fakt ist jedenfalls, dass auch in kommunistischen Staaten sehr aktive Rotkreuzgesellschaften existierten und diese auf internationaler Ebene (in Liga und später Föderation) konstruktiv mitarbeiteten. Vielleicht war das IKRK damit auch nur eines unter vielen Opfern des strengen Souveränitätsdogmas dieser Staaten, welches eine «Einmischung» von außen prinzipiell als unerwünscht ansah, sei diese auch «nur» humanitärer Natur.
Eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Genf und Moskau erfolgte erst in der Gorbatschow-Ära. Von einem «sehr warmen Empfang» in Moskau berichtet das IKRK anlässlich eines ersten Spitzentreffens zwischen IKRK-Präsident (Alexander Hay) und Generaldirektor (Jacques Moreillon) mit Außenminister Schewardnadse im April 1987. Bereits von 1920–1938hatte hier die legendäre «Mission Wehrlin» residiert, die neben ihrer humanitären Mission inoffiziell auch Aufgaben quasikonsularischer Natur für die Schweiz wahrgenommen hatte. Nach 54-jähriger Unterbrechung konnte das IKRK 1992 erneut eine Delegation in die nunmehr wieder russische Hauptstadt entsenden. Seine Rolle als neutraler Vermittler hatte damit wieder universelle Anerkennung gefunden.
Dekolonisierung. Der mit der Unabhängigkeit Indiens und Indonesiens bereits in den 1940er Jahren einsetzende und in den 1960er Jahren seinen Höhepunkt erreichende Prozess der Dekolonisierung führte in kaum 20 Jahren zur Entstehung von mehr als 80 neuen Staaten und in der Folge sehr rasch auch zur Gründung einer entsprechenden Anzahl neuer nationaler Rotkreuzgesellschaften. Spiegelbildlich zur UN-Welt war dieser Strukturwandel auch in der humanitären Welt des Roten Kreuzes mit erheblichen Anpassungsschwierigkeiten verbunden, nicht nur, aber eben auch in den Köpfen der handelnden Akteure in Genf. Aus dem ehemaligen Hotel Carlton, auf einem Hügel über den imposanten Gebäuden des Völkerbundes gelegen und seit 1946 Sitz des IKRK, reicht der Blick an schönen Tagen über den Genfer See bis zu Europas höchstem Berg, dem Montblanc an der Grenze zwischen Frankreich und Italien. Diese europäische Perspektive, die auch die Aktivitäten der Rotkreuzbewegung für nahezu 100 Jahre dominiert hatte, gehörte endgültig der Vergangenheit an. Gleichzeitig bot sich nun aber die Chance, dem bereits in den 1860er Jahren erträumten Ideal einer wahrhaft universellen Bewegung einen entscheidenden Schritt näher zu kommen. Aber natürlich war die Integration einer Vielzahl von Rotkreuzgesellschaften aus einer politisch, ideologisch und kulturell zunehmend heterogenen Staatenwelt eine große Herausforderung für die Genfer Institutionen und ihre obersten Repräsentanten: Noch immer (bis zu seinem Tod 1960) war Max Huber Ehrenpräsident, Carl Jakob Burckhardt Mitglied des Komitees, Paul Ruegger, ehemaliger Mitarbeiter Hubers, seit 1948 dessen Präsident und sein Nachfolger von 1955 bis 1964, Léopold Boissier, war in jungen Jahren gar nochPrivatsekretär des damaligen IKRK-Präsidenten Gustave Ador auf den Pariser Friedenskonferenzen von 1919
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