Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
gewesen. Allesamt Persönlichkeiten, die fest in bürgerlicher Kultur und christlich-abendländischem Denken verhaftet waren. Für diese Männer und auch einige Frauen (etwa Lucie Odier) war der Sinngehalt von Begriffen wie Menschenwürde und Humanität, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit unzweifelhaft. Im weltweiten Kontext, in den die Rotkreuzbewegung nunmehr hineingestellt war, galt dies nicht mehr uneingeschränkt. «Es ist fraglos», so im Jahre 1959 Martin Bodmer, IKRK-Vizepräsident und Begründer einer der bedeutendsten privaten Büchersammlungen der Welt (Bibliotheca Bodmeriana), «daß ein Teil der Menschheit heute von Voraussetzungen ausgeht, die so diametral verschieden sind von denen, die zur Zeit und am Ort der Rotkreuzgründung bestanden, daß damit eben auch die Rotkreuzidee keine einheitliche mehr sein kann.» Eben um dieser Einheit willen war es wohl eine kluge Entscheidung des Komitees, weitgehend auf Grundsatzdiskussionen zu verzichten und sich stattdessen «rotkreuztypisch» ganz auf die praktische humanitäre Arbeit zu konzentrieren. Nach dem Ende des Kalten Krieges konnte zwar in weiten Teilen der Staatengemeinschaft eine deutliche Annäherung der Wertvorstellungen erreicht werden. Dennoch blieb man in den Rotkreuzinstitutionen zu Recht zurückhaltend: Menschenrechtsdebatten und -aktionismus überließ man anderen – etwa den nur wenige Schritte entfernt angesiedelten UN-Menschenrechtsinstitutionen Rat und Hochkommissariat sowie den zahlreichen ebenfalls in Genf und weltweit aktiven Nichtregierungsorganisationen (etwa Human Rights Watch, amnesty international). Kommunikation mit diesen Akteuren pflegte man trotzdem, aber eben diskret.
Erneut sehr ähnlich wie in der UNO kam als strukturelles Problem das finanzielle Ungleichgewicht zwischen neuen und etablierten Gesellschaften hinzu. Noch 1986 trugen die USA allein 25 Prozent des Budgets der Rotkreuzliga, 129 Gesellschaften hingegen weniger als ein Prozent. Die Rotkreuzliga initiierte bereits in den 1960er Jahren ein großes Entwicklungsprogramm, welches durch Schulungen, Materiallieferungen unddie Entsendung von Delegierten wesentlich zur Stärkung der Rotkreuzstrukturen in den Entwicklungsländern beitrug. In diesem Kontext entstand auch das für die Föderation bis heute gültige Prinzip der Regionalisierung: Regionalinstitute, Regionaldelegierte und Regionalkonferenzen sollten und sollen dafür Sorge tragen, dass sich die nationalen Gesellschaften so gut wie möglich in das soziale, kulturelle und politische Milieu einer Region einfügen. Die weltweiten Organisationsstrukturen (einschließlich zentraler Warendepots in allen Teilen der Welt) wurden alsbald erfolgreich zur Koordination und Durchführung von Katastropheneinsätzen, in jüngerer Zeit zunehmend aber auch für allgemeine entwicklungspolitische Ziele, wie die Verbesserung des Gesundheitsschutzes und die Bewältigung von Migrationsfolgen, eingesetzt. Durch viele Hundert öffentliche Appelle – von den Hungerkatastrophen in Äthiopien der 1970er und 1980er Jahre bis hin zu den Opfern des Tsunamis in Südostasien (2004) und denjenigen des Erdbebens in Haiti (2010) – konnte über Liga/Föderation in allen Teilen der Welt umfangreiche materielle und finanzielle Hilfe organisiert und logistische Unterstützung geleistet werden.
Zwar ist das IKRK derzeit mit über 11.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weltweit in etwa 80 Staaten präsent. Seit nunmehr 50 Jahren finden aber mit wenigen Ausnahmen (Jugoslawienkrieg/Südamerika) alle vom Umfang her bedeutenden operativen Missionen in Staaten statt, die erst nach 1945 ihre Unabhängigkeit erlangt haben. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass die europäischen Staaten bei ihrem Rückzug aus Kolonialgebieten vielfach ethnisch, religiös und kulturell heterogene sowie politisch und wirtschaftlich fragile Gemeinwesen hinterlassen hatten. Die fast unausweichliche Folge war eine große Anzahl interner bewaffneter Konflikte. Teilweise durch das Eingreifen der antagonistischen Großmächte USA und Sowjetunion internationalisiert, passten diese so gar nicht mehr in das Schema des klassischen europäischen Staatenkrieges, wie es den Gründern der Rotkreuzbewegung 100 Jahre zuvor vor Augen gestanden hatte. Die Folgen für das IKRK waren und sind gravierend.
Vom kulturell vertrauten europäischen Kontinent verlagerte sich der geographische Tätigkeitsschwerpunkt der Genfer Institution hin zu den Krisenherden in aller Welt: Von
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