Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
neueste Zeitung unter die Nase. Es war der Anzeigenteil. Aufgeregt deutete sie auf die rechte Spalte. «Lies das!»
WARNUNG
Ich warne hiermit jeden, meiner Schwester Carolina Sophie Kaufmeister, weder auf meinen Namen etwas zu borgen oder zu verabfolgen zu lassen, in dem ich für nichts hafte.
Ruhrort, den 8. Oktober 1855
Georg Kaufmeister
Lina verschluckte sich fast an der Hafergrütze. Solche Anzeigen galten sonst durchgebrannten Ehemännern, die ihr gesamtes Geld verschleudert hatten. Und nun tat Georg das mit ihr, die nicht einen Pfennig von ihm bekommen hatte und der er im Gegenteil noch das Erbe schuldete.
«Wie kann er das nur tun», sagte sie entsetzt. «Ich baue mir meine Existenz doch gerade erst auf, und nun glaubt jeder, ich wäre verschuldet.»
Guste setzte sich. «Nun, dir war hoffentlich klar, dass er irgendetwas tun würde, wenn er von deiner Anzeige erfährt.»
«Ich dachte, er würde herkommen und herumtoben. Mich wieder schlagen oder vor ein Gericht ziehen. Aber das hier …» Sie schlug mit der Hand auf die Zeitung. «Das muss er offiziell zurücknehmen.»
«Das wird er niemals tun. Und schon gar nicht in der Stimmung, in der er zurzeit ist.» Guste nahm die Zeitung und faltete sie zusammen. «Er war bei der Bahndirection wegen der Eisenbahnobligationen, die Vater gezeichnet hatte. Aber sie haben ihm eine Auszahlung verweigert, weil er die Zertifikate nicht hat. Er hat sie überall gesucht, sie waren nicht aufzufinden.»
«Vater hatte sie immer in seinem Zimmer aufbewahrt, daran kann ich mich gut erinnern. Sie lagen in der untersten Schublade seines Schreibtisches.»
Guste nickte. «Ja, davon wusste ich auch. Er hat Vaters Zimmer bis in den letzten Winkel durchsucht, nichts. Sie sind verschwunden, und die Direction stellt sich stur. Sie sind ja im Recht, und die Obligationen verfallen am Jahresende.»
«Braucht er denn so dringend Geld?», fragte Lina.
«Ja, leider. Sie müssen Kapital nachschießen für die Gießerei. Herr von Müller hat ihnen angeboten, die Mehrkosten zu übernehmen, aber dann müssten sie ihm mehr Anteile überlassen.» Guste seufzte. «Bertram leidet sehr darunter, denn es sieht aus, als würde die Familie herausgedrängt. Wenn von Müller mehr als fünfzig Prozent der Anteile bekommt, dann hat er das Sagen.»
«Sie sollten Cornelius von Sannberg fragen.» Lina schob ihre Schüssel mit der Hafergrütze weg. «Er ist wieder sehr interessiert. Dann könnten sie wenigstens verhindern, dass von Müller zu groß wird.»
«Von Müller hat sich dagegen gewehrt, ihn mit in das Geschäft zu nehmen. Und Bertram und Georg halten ihn für einen zu unsicheren Kandidaten.»
Lina zuckte die Schultern. «Dann müssen die beiden sich das Geld eben leihen.» Sie stand auf. «Ich muss etwas gegen diese Anzeige unternehmen, Guste.»
«Was willst du denn tun, Lina? Georg zur Rede stellen? Der lässt dich nicht einmal ins Haus oder ins Kontor.» Guste folgte Lina in den Flur.
«Mir fällt schon etwas ein», sagte Lina. «Und was, das kannst du dann in der Zeitung lesen.»
Häufig erschienen Anzeigen mehrmals in der Ruhr- und Rheinzeitung. Es hatte Lina einiges gekostet, dass ihre Erwiderung auf die Unverschämtheit ihres Bruders zwei Tage später direkt unter der seinen erschien:
ERWIDERUNG
Ich, Carolina Sophie Kaufmeister, erkläre öffentlich, keine Schulden zu haben, noch in Zukunft welche machen zu wollen.
Ruhrort, 11. Oktober 1855
Carolina Kaufmeister
Zufrieden legte Lina die Zeitung beiseite, die sie von Guste bekommen hatte. Sie nahm ihre Näharbeit zur Hand und heftete mit groben Stichen den Rocksaum eines Nachmittagskleides für die Schwägerin des Bürgermeisters. Ob es Weinhagen recht gewesen wäre, dass seine Familie zu Linas Kunden zählte? Seine eigene Frau jedenfalls war noch nicht zu ihr gekommen.
Borghoff hatte Wort gehalten und war in der vorherigen Woche nach Duisburg gefahren, um selbst mit Finchen zu sprechen, aber hauptsächlich, um mit seiner Anwesenheit zu zeigen, dass Finchen unter besonderem Schutz stand. Lina wusste, dass er auch heute hingefahren war, diesmal, weil er tatsächlich bei der Staatsanwaltschaft zu tun hatte. Sie würde beruhigter sein, wenn sie wusste, dass es Finchen gutging.
Das Wetter hatte sich sehr verschlechtert, für Oktober war es viel zu kalt. Es regnete, und manchmal schneite es sogar ein wenig, auch wenn natürlich kein Schnee liegen blieb. Lina war froh, an einem solchen Tag nicht aus dem Haus gehen zu müssen.
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