Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Sie hatte feststellen müssen, dass sie, wenn sie ihre Arbeit ordentlich machen wollte, heizen musste. Deshalb hatte sie Wilhelm gebeten, ihr Brennholz zu besorgen, was er im Laufe des Morgens auch getan hatte. Jetzt, wo ihre Finger nicht mehr steif vor Kälte waren, ging das Nähen wieder leicht von der Hand, ihr Zimmer war wohlig warm, und es gab auch Tee.
Gerade hatte sie die lose Naht mit der Hand vollendet und wollte sich an ihre Nähmaschine setzen, als es an die Tür klopfte. Der Gast wartete nicht darauf, dass sie «Herein» rief, sondern trat gleich ein. Es war Robert Borghoff, noch in seinem tropfenden Macintosh-Mantel. «Sie ist verschwunden», sagte er. «Finchen ist irgendwann in der Nacht aus dem Heim verschwunden.»
«Mein Gott!» Lina ließ das Kleid sinken. «Sie haben sie.»
«Ich bin mir nicht sicher», sagte Borghoff und zog endlich den nassen Regenmantel aus. «Kaspar Heinen schien ehrlich besorgt. Anders als bei anderen verschwundenen Mädchen, die nicht viel taugten, glaubt er nicht, dass Finchen so kurz vor der Geburt wegläuft. Aber diese Frau Hartung, von der Sie mir erzählt hatten, war geradezu außer sich und drängte darauf, sie zu suchen.»
«Vielleicht spielt sie nur die Besorgte.»
«Das tut sie ganz sicher.» Borghoff deutete auf den Tee. «Kann ich eine Tasse haben? Es ist sehr kalt draußen.»
«Ja, natürlich.» Lina stand auf und gab ihm eine Tasse, den Tee goss er sich selber ein.
«Ich bin natürlich voreingenommen, nach dem, was Sie mir über diese Frau erzählt haben. Ihre Besorgnis scheint sich aber nicht auf Finchen an sich zu beziehen. Ich hatte den Eindruck, dass sie vielleicht mehr um ihre Pläne mit dem Mädchen und ihrem Kind fürchtet. Und mit ihrem Verschwinden nichts zu tun hat.»
«Sie meinen, Finchen könnte tatsächlich geflohen sein?» Lina wusste nicht, ob sie sich freuen sollte oder ob sie sich noch mehr sorgen musste, weil Finchen bei diesem Wetter allein irgendwo da draußen war und womöglich noch von den Mitgliedern des Ordens verfolgt wurde.
Borghoff rührte etwas Zucker in den Tee. «Ich bin mir natürlich nicht sicher. Aber ich denke, diese Frau Hartung ist sonst eher eine ruhige Person, und sie hätte sich nicht so aufgeführt, wenn sie wüsste, dass Finchen bereits in der Gefangenschaft des Ordens ist. Und ich ahne auch, warum sie so nervös ist – wie Heinen mir sagte, gibt es in der nächsten Zeit nur eine weitere Geburt, aber später als bei Finchen. Und anscheinend brauchen sie ja unbedingt ein neugeborenes Kind.»
«Können Sie Finchen finden?», fragte Lina. «Ich meine, wenn sie irgendwo da draußen ist …»
Borghoff schüttelte den Kopf. «Wir wissen nicht, welchen Weg sie nimmt. Und es gibt keinen Grund, heute nochmals nach Duisburg zu fahren. Sie ist ja nicht dumm. Sie weiß, dass sie hierherkommen kann.»
Konnte sie das? Clara wird sich schön bedanken , dachte Lina.
«Hoffen wir das Beste», sagte Borghoff und stellte die leere Tasse hin. «Vielleicht ist sie ja schon bald hier.»
Als Borghoff die Polizeiräume im Rathaus betrat, ahnte er bereits, dass Ärger bevorstand. Vor Ebels Schreibpult stand der äußerst aufgebrachte Dr. Erbling. Er hatte wohl erfahren, dass Borghoff den Hausdiener der Familie, der seit ein paar Tagen im neuen Gefängnis einsaß, wieder freilassen wollte.
«Ich weiß auch nicht genau, warum wir ihn laufenlassen sollen», sagte Ebel gerade.
«Weil er unschuldig ist, Sergeant», sagte Borghoff ruhig.
«Unschuldig? Er ist der Einzige, der meiner Tochter etwas angetan haben kann.» Erblings Stimme überschlug sich.
«Dr. Erbling, bitte beruhigen Sie sich und hören Sie mir einen Moment zu. Sie sind doch ein verständiger Mann. Hätten Sie dem Mann so etwas je zugetraut?»
Erbling hielt einen Moment inne. «Wenn ich es ihm zugetraut hätte, hätte ich ihn dann in mein Haus geholt? Glauben Sie das?» Seine Stimme wurde wieder lauter. «Deshalb bin ich doch so verzweifelt. Wie hätte ich mein Kind schützen können vor jemandem, dem ich vertraue?»
«Der Mann ist seit zehn Jahren bei Ihnen, er war gerade sechzehn, als Sie ihn eingestellt haben. In all der Zeit hat er sich nichts zuschulden kommen lassen.»
«Anscheinend hat das keine Bedeutung, Herr Commissar, denn mein Kind ist tot.»
Borghoff legte ihm die Hand auf die Schulter. «Halten Sie Ihren Kollegen Dr. Feldkamp für einen fähigen Arzt?»
Erbling nickte. «Natürlich.»
«Wenn Dr. Feldkamp sagt, dass Ihrer Tochter die
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