Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
sahen in jede Kneipe, damit die Gäste dort merkten, dass die Polizei nicht schlief.
Vor dem Etablissement der dicken Martha lag ein Betrunkener in der Gasse. Über ihn beugte sich eine Frau.
«Können wir helfen?», fragte Borghoff.
«Ich kann ihn nicht aufheben.» Die Aussprache der Frau war merkwürdig, und als sie aufsah, konnte Borghoff erkennen, warum: Eine Gesichtshälfte war durch Schnitte zerstört, der Mundwinkel hing schief herunter. Rasch zog sie sich das Tuch, das sie um die Schultern trug, über den Kopf und den zerstörten Teil ihres Gesichts.
«Er ist mein Bruder. Martha hat ihn hinausgeworfen, und ihr Hausdiener war nicht zimperlich dabei.» Sie drehte den Kopf zur Seite, und Borghoff und Ebel konnten sehen, dass der Mann blutete. «Er hätte nicht herkommen sollen.»
Der Mann stöhnte leise. Ebel und Borghoff griffen zu und zogen ihn ein Stück hoch, um ihn an die Hauswand zu lehnen.
«Das sieht böse aus. Das sollte sich ein Chirurg anschauen», sagte Borghoff.
«Ich habe den alten Bleiweiß bei Meier am Markt gesehen», antwortete Ebel. «Ich gehe ihn holen – falls er noch laufen kann.»
Als Ebel fort war, fragte Borghoff die Frau: «Dein Name ist Grete, nicht wahr?»
Sie nickte und sah ihn erstaunt an. «Woher wissen Sie das?»
«Ich habe nach dir gesucht. Ich muss mit dir reden über den, der dir das angetan hat.»
«Ich kann dazu nichts sagen …» Ihre Stimme wurde leise, als fürchtete sie, dass jemand zuhören könnte. Einen Moment war da eine Bewegung an einem der oberen Fenster, und wirklich, kurz darauf steckte ein großer, glatzköpfiger Kerl seinen mit vielen Narben bedeckten Kopf heraus. «Mach, dass du reinkommst, Grete. Um deinen Bruder kümmert sich ja die Polizei. Wenn du nicht bald weitermachst, kannst du sehen, wo du Arbeit findest.»
«Ich muss gehen», sagte sie.
«Was arbeitest du denn bei Martha?»
«Ich bin keine Hure mehr, wenn Sie das meinen. Mit dem Gesicht will einen nur noch der Abschaum, der nichts zahlen kann. Aber ich wollte nicht auf dem stinkenden Bauernhof arbeiten. Martha hatte Mitleid. Jetzt wische ich die Böden auf, helfe in der Küche, was so anfällt. Aber mein Bruder dachte, ich sei wieder eine Hure …»
«Komm morgen zum Rathaus.»
«Morgen? Am Neujahrstag?»
Borghoff lächelte. «Den haben wir längst. Natürlich am Dienstag. Das ist ein polizeilicher Befehl. Und es macht sicher keinen guten Eindruck auf Martha und ihren Wachhund, wenn die Polizei dich hier abholt.»
«Ich werde kommen. Und Sie kümmern sich um meinen Bruder?»
«Versprochen. Wir nehmen ihn mit ins Gewahrsam, da kann er seinen Rausch ausschlafen.»
Grete verschwand im Haus, und kurz danach traf Ebel mit dem beachtlich schwankenden Chirurgen ein. «Keine Angst», sagte er. «Wenn der alte Säufer jemanden näht, ist er sofort stocknüchtern.»
Baron von Sannberg reichte Lina gerade das zweite Glas Punsch. Es war ein starkes Gebräu aus Rotwein, Arrak und gutem Rum. Lina fühlte sich nach dem ersten Glas, dem Champagner und dem Wein, den sie zum Essen und während der Vorführung der Laterna magica getrunken hatte, schon leicht beschwipst. Trotzdem nahm sie es und nippte kurz daran. Guste und Bertram hatten sich mit ihren Kindern bereits verabschiedet, und auch die von Müllers und der düstere Priester waren kurz nach dem Feuerwerk gegangen. Die jungen Töchter des Barons waren bereits im Bett, und nun vergnügte sich der Rest der Gesellschaft mit lustigen Liedern, die mal Mina, mal der Hausherr am Klavier begleiteten. Lina konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt einen solch schönen, fröhlichen Abend erlebt hatte. Ihre Wangen waren gerötet vom Alkohol und vom Lachen, ihre Augen blitzten, und sie nahm sich nicht zurück, als sie bemerkte, dass Cornelius von Sannberg sie mit Interesse betrachtete. Gerade setzte sie das Glas wieder an die Lippen, da hörten alle ein heftiges Klopfen am Fenster.
«Herr Kaufmeister, Herr Kaufmeister, Fräulein Lina!»
«Das ist unser Heinrich», sagte Georg und eilte zur Tür, um seinem Hausdiener zu öffnen. Das Personal des Barons hatte in der nach hinten hinausgehenden Küche bei den fröhlichen Gesängen nichts gehört.
Lina hatte das Gefühl, schlagartig nüchtern zu werden. «Vater …», flüsterte sie und ging hinter ihrem Bruder her.
«Ihr Herr Vater …» Heinrich musste nach Luft schnappen, so sehr hatte er sich beeilt. Dann sah er Lina und hinter ihr Aaltje und Mina, die ihr gefolgt waren.
«Ich habe noch
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