Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
hatten. Der Gesprächsstoff ging Cornelius von Sannberg und Lina nie aus. Literatur, Wissenschaft, Geschichte und Politik – immer wieder erstaunte Lina den gebildeten Mann mit ihrem Wissen und ihrem Verstand. Leider würde er bald wieder auf sein Grafschafter Gut ziehen, das ihm im Winter zu kalt und zu abgelegen war.
Diotima und Beatrice waren nicht angetan davon, ihre Zeit auf dem Land zu verbringen, und sprachen bereits davon, wieder zu ihrer Mutter nach Berlin zu ziehen. Nicht nur ihre Freundinnen Emma und Friederike bedauerten das, auch Lina war untröstlich. Ohne die Mädchen konnte sie den Baron unmöglich besuchen, und auf die Gespräche mit ihm zukünftig zu verzichten, würde ihr sehr schwerfallen.
Aus diesen eher trüben Gedanken rissen sie schnelle Schritte im Flur. Es war Finchen, die von einem Besorgungsgang in der Stadt zurückkam. Lina legte das Buch beiseite und ging aus dem Salon in den Flur. Durch die halb geöffnete Küchentür hörte sie Finchen mit der Köchin reden.
«Heute Morgen ist er gestorben. Er war ja nun schon zwei Wochen krank, aber damit hatte wohl niemand gerechnet.»
«Es gibt sicher viele Kinder, die seinen Tod nicht bedauern», bemerkte Helene, und Lina wusste plötzlich, von wem sie sprachen. Der Lehrer Reichert, der vor zwei Wochen schwer erkrankt war, schien tot zu sein. Sie erinnerte sich, wie die kleinen Jungen nach Hause geschickt worden waren, weil er in der Schule zusammengebrochen war.
«Der Lehrer ist gestorben?», fragte sie, als sie die Küche betrat.
Finchen nickte heftig. «Es wird überall davon gesprochen. Heute Nacht muss es passiert sein.»
Reichert war nicht sonderlich beliebt gewesen, aber jeder hatte ihn gekannt. Die meisten jüngeren Ruhrorter waren von ihm unterrichtet worden, nicht wenige hatten regelmäßig Prügel bezogen oder die Ohren langgezogen bekommen.
«Sie sagen, der Arzt hätte nicht feststellen können, was er hatte, aber er wollte nicht ins Diakoniekrankenhaus nach Duisburg, er hätte das Geld dafür nicht gehabt.» Finchen kam in Fahrt. «Und er hätte schreckliche Schmerzen gehabt, bis er gestorben sei. ‹Der Tod war eine Erlösung› hat die Pfarrersfrau gesagt.»
«Wenn sie das sagt.» Lina versuchte, ein Schmunzeln über Finchen zu unterdrücken.
«Sie haben auch alle über die Witwe Dahlmann getuschelt.»
«Warum denn das?», fragte Helene interessiert.
«Na, sie hat darauf bestanden, dass der Leichnam gleich weggebracht wird. Man hat ihn jetzt in einem Nebenraum der Schule aufgebahrt. Das fanden viele pi … pita … ets …»
«Pietätlos?», half Lina.
Finchen nickte. «Schließlich hat sie lange Jahre Miete von ihm kassiert – sagt die Frau Grundert.»
«Er ist kein Familienmitglied und hatte keine Angehörigen – da ist es sicher besser, wenn er an einem öffentlichen Ort aufgebahrt wird», sagte Lina. «Hast du das Bleichmittel bekommen?»
Finchen nickte und deutete auf den Küchentisch.
«Räume es in die Kammer. Dann können du und Lotte die Betten neu beziehen.»
Lina wollte zurück zu ihrem Buch, aber gerade, als sie es zur Hand genommen hatte, kam ihr plötzlich ein Gedanke. Der tote Lehrer. Die Witwe Dahlmann. Zwei Zimmer, für die der Lehrer kaum mehr als hundert Thaler Jahresmiete gezahlt haben dürfte, denn die Lehrergehälter waren auch für Männer nicht üppig.
Früher war sie oft jeden Posten durchgegangen, den sie eine Wohnung und das selbständige Leben kosten würden, aber da waren das versprochene Erbe von fünftausend Thalern und die beiden kleinen Renten feste Größen in der Rechnung gewesen. Jetzt hatte sie lediglich die Ersparnisse der letzten Jahre und eine gewisse Summe, die sie an ihrem Bruder vorbei vom Haushaltsgeld abgezweigt hatte. Aber wenn für Kost und Logis gesorgt war, dann hätte sie ein ganzes Jahr Zeit, Georg zur Herausgabe ihres Geldes zu bringen. Es war riskant, aber ihre Freiheit war ihr das Wagnis wert.
Kurz entschlossen zog sie ihren Hut an, warf ein dünnes Cape über, denn draußen war es bereits frühlingshaft warm, und eilte zu Clara Dahlmann. Der Laden war über Mittag geschlossen, aber Lina sah Clara und ihren Ladendiener Wilhelm neue Ware einräumen. Sie klopfte mit dem Stock an die Tür.
Natürlich ließ Clara Dahlmann ihre Stammkundin nicht draußen stehen. Sie öffnete, und Lina kam langsam die drei Stufen herauf.
«Entschuldigen Sie, Frau Dahlmann, dass ich Ihre Mittagspause störe, aber …»
«Das macht doch nichts, Fräulein Kaufmeister.»
Lina
Weitere Kostenlose Bücher