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Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Kaffke
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das?», fragte sie leise.
    «Seit November letzten Jahres.»
    Die Kartenlegerin wollte etwas sagen, aber da kam Frau Erbling glücklich lächelnd zurück. Auch diesmal war der Doktor einverstanden, er wollte seine Frau glücklich sehen und ihr den Wunsch erfüllen, dieses einzigartige Kleid zu tragen. Lina würde nicht im kleinen Haus der Kundin arbeiten, sondern bei sich zu Hause, und Frau Erbling sollte in ein paar Tagen zur Anprobe erscheinen. Ihr Mädchen würde am Abend noch das Ballkleid und die drei zu ändernden Alltagskleider in die Harmoniestraße bringen.
    Der Abschied fiel sehr herzlich aus, fast hätte die junge Frau Lina umarmt, so glücklich war sie über die Aussicht, in diesem Sommer wirklich gut gekleidet zu sein. Madame Allenberg hatte sich mit ihr zusammen verabschiedet. Sie hatte sich in einer der wenigen ehrbaren Pensionen in der Altstadt einquartiert. Bevor sie sich von Lina trennte, sagte sie: «Ich will Sie nicht unnötig beunruhigen, meine Liebe. In Ihren Karten habe ich Tod und Gefahr gesehen, aber auch viel Gutes. Die Karten sagen kein unabänderliches Schicksal voraus, Sie können alles jederzeit ändern, es liegt in Ihrer Hand. Aber dieser Ort hier …» Sie schien zu schaudern. «Was ich sah, geht über Ihre Karten hinaus. Etwas hier ist grundsätzlich falsch und böse. Es ist noch nicht lange hier, aber es ist mächtig und gewinnt täglich an Macht. Es ist teuflisch. Hüten Sie sich vor schlechter Gesellschaft.» Damit drehte sie sich um und war verschwunden.
    Lina schüttelte den Kopf. Vielleicht war die Madame ja so sensibel, die Auswirkungen der Morde zu erspüren. Sie hatte ihr von den Grausamkeiten des Mörders erzählt, ein Mensch wie sie konnte schnell denken, hier seien mysteriöse Machenschaften am Werk. Der Mörder war ohne Zweifel ein böser Mensch. Aber immer noch ein Mensch. Plötzlich kamen ihr die Schreie der verrückten Kätt wieder in den Sinn. «Teufel, es sind Teufel in Ruhrort, sie haben mein Kind gegessen.»
    Lina schauderte, schüttelte es aber wieder ab. Kätt war verrückt, und die Madame war es wahrscheinlich auch.

    In die Kleine Straße war wieder Ruhe eingekehrt, doch im Zentrum der Altstadt war immer noch die Polizeiaktion im Gange. Am Marktplatz herrschte so viel Aufregung, dass Lina beschloss, durch eine andere Gasse Richtung Weidetor zu gehen. Sie ahnte inzwischen, dass die Aufregung dem Schifferssohn Drömmer galt.
    Ruhrorts Gassen waren nicht nur eng, sie hatten auch selten eine einheitliche Häuserflucht. Gerade hatte Lina sich einige Meter weit durch eine Gasse gezwängt, in der sie sich fast den ausladenden Rock zerriss, da öffnete sich der Weg bei zwei oder drei Häusern, deren Front ein Stück hinter den anderen zurücklag. Zwischen ihnen gab es noch einen weiteren Durchgang, durch den der Rock einer Dame jedoch niemals gepasst hätte.
    Lina blieb einen Moment stehen, um zu prüfen, ob ihr Kleid auf dem weiteren Weg voraus Schaden nehmen könnte, als sie plötzlich ein Schluchzen hörte. Es kam direkt neben ihr aus dem Spalt zwischen den Häusern.
    Sie trat näher. Dort in dem Spalt hockte ein Kind, ein Junge, wie sie vermutete, richtig erkennen konnte sie das in dem Schummerlicht, das zwischen den Häusern herrschte, nicht. «Kleiner», rief sie. «Willst du nicht da herauskommen und mir erzählen, warum du weinst?»
    «Ich habe Angst.» Die Stimme war die eines kleinen Kindes, vielleicht vier, fünf Jahre alt.
    «Vor mir brauchst du keine Angst zu haben. Ich werde dir nichts tun.»
    Sie wartete einen Moment und fügte dann hinzu: «Ich werde dir helfen, das verspreche ich dir.»
    Zögernd regte sich etwas in der Gasse. «Kannst du mich zu Mama bringen?»
    Das Kind kam heraus, und Lina erschrak, denn es war nicht klein, sondern schon fast so groß wie sie selbst. Und dann erkannte sie es: Es war Anno Wienhold, mit offenem, wirrem Haar und völlig verweintem Gesicht. Er schien sie nicht zu erkennen, und die Stimme des kleinen Kindes, die Lina vorher gehört hatte, kam aus seinem Mund: «Bitte bring mich zu meiner Mama.»
    «Weißt du, wie du hierhergekommen bist?», fragte Lina.
    Anno sah sie mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. Er wischte mit der schmutzigen Hand durch sein Gesicht und zog den Rotz hoch. Lina schauderte. Jede seiner Gesten war die eines kleinen vier- oder fünfjährigen Jungen.
    Lina zog ein Taschentuch hervor und wischte ihm damit durchs Gesicht, aber sie verschmierte es noch mehr. «Komm mit», sagte sie und griff

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