Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
nach ihrem Stock, den sie sich an den Arm gehängt hatte. Anno zuckte zusammen und wäre fast wieder in dem Spalt verschwunden, aber Lina erwischte ihn noch am Arm.
«Der Stock ist nicht zum Schlagen», erklärte sie dem zitternden Kind. «Ich brauche ihn zum Gehen, siehst du?» Sie machte einen schwankenden Schritt vorwärts.
«Ja, ich weiß.»
Lina zuckte zusammen. Das war Annos Stimme, und als sie ihn jetzt ansah, war auch sein Gesichtsausdruck wieder der, den sie bereits kannte.
«Anno, du erkennst mich?», fragte Lina verblüfft.
«Ja. Fräulein Lina Kaufmeister.» Er sah sich um. «Wo sind wir hier?»
«In der Altstadt.»
«Von Ruhrort?»
Lina nickte. «Du bist anscheinend wieder ausgerissen!»
Er runzelte die Stirn, dann hellte sich sein Gesicht auf. «Ja, ich erinnere mich. Ich habe mich heute Morgen hinausgeschlichen …» Er brach ab. Offensichtlich wusste er nicht, wie er von dort hierhergekommen war.
«Du musst zurück. Deine Eltern werden krank vor Sorge sein», sagte Lina streng.
«Und ich könnte dich nicht überreden, mich einfach hierzulassen?» Annos Stimme klang fast ein wenig lauernd, aber auch flehend. Warum wollte das Kind nicht zu seinen Eltern, die es doch umhegten, so gut sie konnten?
«Anno, die ganze Altstadt wird von der Polizei durchkämmt.»
Er sah sie erschrocken an: «Meinetwegen?»
Lina lächelte. «Nein, sie suchen jemand anderen. Aber du kommst nicht aus der Altstadt heraus, sie kontrollieren an jeder Straße.»
Er seufzte. «Dann ist es sicher besser, nach Hause zu gehen.»
«Weiter die Gasse hinauf ist irgendwo ein Brunnen, da werden wir dich erst einmal säubern, mein Junge.»
Lina hatte Annos Gesicht und die Hände gewaschen und aus einem dünnen Stoffstreifen ein Band für seine Haare gerissen. «Deine Eltern wollen nicht, dass jemand hier von dir weiß», sagte Lina. «Also werde ich dich als meinen Neffen ausgeben. Und ich will, dass du dich benimmst.»
Brav trottete er neben ihr her. Lina hatte den Eindruck, dass er den Weg zurück nach Hause nicht allein gefunden hätte. Sie kamen tatsächlich ohne Probleme durch die Kontrolle der Bürgerwehr. Gerade als sie den Posten hinter sich gelassen hatten, hörte Lina laute Rufe: «Sie haben ihn! Sie haben Drömmer geschnappt.»
Unwillkürlich verlangsamte Lina ihre Schritte und drehte sich kurz um. Ein anderer Bürgerwehrmann kam aus der Gasse gelaufen. «Wir können nach Hause gehen, er wurde auf dem Dachboden eines Hauses in der Kurzen Gasse entdeckt.»
Lina und Anno gingen langsam weiter, Lina hatte den Eindruck, je näher sie dem Hause der Wienholds kamen, desto langsamer wurden Annos Schritte. Schließlich blieb er stehen.
«Sie sperren mich ein», sagte er leise. «Ich will da nicht hin.»
«Anno …» Lina seufzte. «Schau, als ich dich fand, hast du mich nicht erkannt. Du wusstest nicht, wie du dorthin gekommen bist. Du weißt nicht einmal den Weg nach Hause …»
«Doch, da hinten geht es rechts!»
«Und aus der Altstadt bis hierher?» Lina legte ihre Hand auf seine Schulter. «Anno, es stimmt, dass deine Eltern dich einsperren, aber das tun sie nur, weil sie dich lieben. Du bist sehr krank, und sie haben Angst, dass dir etwas zustößt, wenn du nicht mehr weißt, wer du bist.»
«Ja, ich bin verrückt», sagte er und ging weiter. «Ich weiß das sehr gut. Aber ich will nicht eingesperrt sein.»
Lina hatte nun Mühe, ihm zu folgen, und fürchtete fast, dass er ihr wegrennen würde, aber im nächsten Moment drehte er sich zu ihr um, schien zunächst verwirrt, sah zu ihr, sah an sich hinunter, griff in den Nacken, um den Zopf zu fühlen. Die Bitterkeit war aus seinem Gesicht verschwunden.
«Komm, Anno, lass uns nach Hause gehen», sagte sie nur. Der Junge nickte, und kurze Zeit später fiel er seiner Mutter Jutta in die Arme.
«Lina, welch ein Glück, dass du ihn gefunden hast!» Jutta Wienhold kam gerade aus dem oberen Stockwerk herunter, wo man Anno hingebracht hatte. Lina stand immer noch in der Eingangshalle, das Mädchen hatte ihr zwar Schal, Hut und Stock abgenommen, sie aber nicht in einen der Salons gebeten. Lina war lieber stehen geblieben, denn die zierlichen Stühle in der Halle waren höchst unbequem für sie. Jutta wurde rot. «Wie unhöflich, dich hier warten zu lassen, bitte entschuldige.»
«Aber ich verstehe doch, wenn ihr euch zuerst um den Jungen kümmern wollt», sagte Lina. «Soweit ich es feststellen konnte, hat er körperlich keinen Schaden genommen. Er war allerdings
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