Das rote U
nicht. Dafür schwimmen die Schollen zu
nah beieinander.
Am liebsten möchte sich Silli die Hände vor die Augen halten. Und hell schreit
sie auf einmal auf – der Mann ist ausgerutscht, aber nun hat er sein
Bündel wieder gepackt und will weiter. Doch bei Sillis Schrei schaut er sich um. Und wieder schreit das Mädchen, noch viel
schrecklicher, noch viel gellender... Der Mann hat beim Umschauen fehlgetreten,
schwer nach der Seite schwankt die Scholle, und er ist verschwunden. Das
Bündel aber liegt am Rand auf dem kreisenden Eisinselchen .
Die eine Seite taucht ein ganzes Stück tiefer hinab. Wird sie halten? Und
wenn sie tiefer hinabtreibt – wer wird dann den armen Jungen noch finden
können in den Millionen Schollen bis hinab nach Wesel und Emmerich? Und
wenn’s dazu diese Nacht noch schneit? Schon jetzt fallen wieder da und
dort die Flocken...
Wie diese Gedanken alle so
schnell durch Sillis Köpfchen gingen, wusste sie
später selber nicht mehr. Aber Knöres hörte fast noch ihren Schrei, da sah er sie auch schon die Treppe
hinabrasen und wie eine Feder von Scholle zu Scholle springen.
Oh, Silli hatte keine Angst, sie könnte untergehen, nur entsetzlich fürchtete
sie sich, jeden Augenblick möchte neben ihr der Kerl auftauchen und sie in
die Tiefe reißen. Aber sie sah sich gar nicht um. Hielt den Blick nur
starr auf die Scholle mit dem Bündel. Immer näher kam sie ihm, immer
näher. Und nun hatte sie’s erreicht. Ein leichter Sprung, und sie stand neben dem Bündel. Wie die Scholle schwankte! Und
fast schwindelig wurde es ihr, mitten in diesem kreiselnden Eis. Vorsichtig
ließ sie sich auf den Knien nieder, und dann zog sie das stille
Bündel mit allen Kräften etwas mehr vom Rande ab. Ja, nun schwamm das Eisstück wieder waagerecht, und das Mädchen
konnte aufatmen.
Aber sie war auf einmal so
müde. Um sich her hörte sie nichts als das ungeheure Singen und
Mahlen der Schollen. Wohl kein Wort hätte sie mehr vom Ufer her verstehen
können. Und es war ein grauenvoller, entsetzlicher Gesang, ein Gesang
nicht wie ein Lied. Nein, alle Stimmen der Welt waren in diesem Getön. Das
war ein Knirschen und Stöhnen, ein Pfeifen und Ächzen, ein
Brüllen wie von weither und wie aus der Tiefe, und dazu die stille Nacht
rundum, in der alles hundertfach laut ineinander tönte.
Kaum wagte Silli ,
sich umzusehen, vor Angst, sie würde schwindelig. Aber nun musste sie es
doch. Irgendwo mussten sie geschrieen haben –
ja, da liefen sie schon. War’s die Feuerwehr? Die Polizei? Sie konnte es
nicht mehr erkennen. Alles flimmerte ihr vor den Augen. Aber noch einmal
lächelte sie froh und glücklich. Denn sie sah, wie das Bündel
vor ihr sich bewegte. Und sie schlug ein wenig die alte Decke zurück...
Ja, da sah sie das todbleiche Gesicht des kleinen Ulrich Bernhard. Und die
Augen hatte er aufgeschlagen.
„ Silli ,
liebe Silli !“ hörte sie ihn noch sagen.
Und dann sah und hörte sie
nichts mehr.
Als sie wieder zu sich kam,
schaute sie verwirrt um sich. Und schnell richtete sie sich auf. Sie saß
auf einem schwarzen Ledersofa in einem kleinen Zimmer. Darin bullerte ein
dicker alter Ofen, der glühte, als wenn er alles um sich her fressen
wollte, und um sie herum standen viele Polizisten und ein paar Feuerwehrmänner.
Und neben ihr, ja, da lag der kleine Bernhard und schlief.
„Na, Kleine, wieder
munter?“ sagte der Herr Kommissar Rademacher.
Sie schaute mit scheuen Augen
um sich.
„Das war ja famos, was du
da gemacht hast. Wir hätten den Jungen ohne dich nie mehr gefunden. Es schneit
schon wieder in dicken Flocken...“
„Nicht wahr, Herr
Kommissar“, sagte sie, „der Herr Behrmann ist doch das Rote
U?“
Der Polizist schüttelte
den Kopf. „Ich weiß gar nicht, was ihr immer von dem Roten U
daherredet...“, sagte er.
Also der wusste noch nichts!
Umso besser!
„Wo sind denn die
anderen?“ fragte sie, „mein Bruder und der Knöres und der Döll und der Mala ?“
Ja, die waren alle zum Herrn
Landrichter Bernhard gelaufen, und jeden Augenblick mussten sie
zurückkommen.
Silli sprang auf. „Ich laufe
ihnen entgegen!“ – Und hinaus war sie.
Mit langen Schritten ging der
Landrichter neben Herrn Behrmann her. Der arme Herr Behrmann konnte kaum
Schritt halten. Und die vier Jungen marschierten mit ernsten, wichtigen
Gesichtern drum herum und unterhielten sich flüsternd vom Roten U.
„Ja, Herr
Landgerichtsrat, da können Sie von Glück sagen. Ohne die
tüchtigen Jungen hätten Sie Ihren
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