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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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an.
    Doch die Worte in Büchern waren nicht so gefährlich wie jene, die irgendjemand unvermittelt sagen konnte - etwa die Worte, die Ajita eines Tages zu mir sagte, Worte, die ich fast überhört hätte, die mir aber im Gedächtnis blieben und mich immer wieder heimsuchten wie das Geflüster des Teufels. Sie war zu spät zu der Philosophie-Vorlesung gekommen, bei der wir uns treffen wollten. Sie studierte zwar Jura, brauchte aber noch ein »Modul«, um ihren Kurs zu vervollständigen. Sie liebte die Philosophie nicht so sehr, wie ich gehofft hatte. Sie konnte keinen Sinn darin sehen, amüsierte sich aber über meine Versuche, ihr die Sache zu erklären.
    »Es geht um Lebensweisheit und darum, was richtig und was falsch ist, oder?«, fragte sie immer.
    »Wäre schön«, erwiderte ich dann. »Dafür müsstest du wohl zur Psychologie wechseln, aber ich glaube nicht, dass du jetzt noch umsatteln kannst. Für mich hat Philosophie mit der Idee des Aristoteles zu tun, dass der Wunsch nach Glückseligkeit den Kern des menschlichen Daseins bildet. Wenn man uns die Philosophie beibringt, geht es aber leider immer nur um Konzepte. Zum Beispiel darum, wie wir die Welt wahrnehmen. Oder darum, was Wissen ist - woher wir wissen, was wir wissen. Oder darum, was wir an Sinnvollem über die Natur des Wissens sagen können.« Nachdem ich mich auf diese Weise außer Puste geredet, aber immerhin ihre Verblüffung geerntet hatte, wurde ich persönlicher. »Ich will wissen. Alles über dich. Aber wie soll ich je wissen, ob ich alles über dich weiß?«
    »Du würdest mich überhaupt nicht durch und durch kennen wollen«, sagte sie barsch. »Warum nicht?« »Das würde dich abschrecken.« »Woher willst du das wissen?« »So wäre es, glaub mir.« »Hast du Geheimnisse?« »Frag mich lieber nicht.«
    »Jetzt muss ich dich fragen, Ajita. Ich brenne vor Neugier.«
    Sie lächelte mich an. »Neugier kann tödlich sein, oder?«
    »Aber ohne Neugier geht gar nichts, findest du nicht auch? Das liegt in unserer Natur - wenn wir unsere Neugier nicht befriedigen, kommen wir nicht voran.«
    »Ja, aber manchmal ist die Neugier nicht gut, mein Süßer.«
    »Was gut ist und was nicht«, sagte ich, »weiß man im Voraus nie so genau.«
    »In diesem Fall wäre es nicht gut. Und jetzt hör auf damit!«
    Ich musterte sie eindringlich, denn ihr Trotz verblüffte mich. Sie war fast immer zärtlich zu mir, und wenn wir sprachen, küsste und streichelte sie mich. Dieses Gespräch fand hinter ihrer Garage statt, wo es einen kleinen, ungenutzten Garten mit einer ansehnlichen Rasenfläche gab, den man vom Haus aus nicht sehen konnte. Sobald es im Frühling wärmer wurde, war das unser geheimer Ort, wo wir uns hinlegten und Radio One hörten, bevor wir zum Abendessen nach London fuhren.
    Obwohl wir so dunkelhäutig waren, dass wir im Viertel mit schöner Regelmäßigkeit rassistisch beschimpft wurden, oft aus vorbeifahrenden Autos, begannen wir, Geschmack daran zu finden, nackt in der Sonne zu baden, zumal wir an alles herankommen konnten, was wir brauchten - Musik, Drinks, das Essen von Ajitas Tante. Ajita nahm oft einen Beutel mit Kleidern mit in den Garten. Liebe geht durch die Augen: Sie lehrte mich die Erotik des Hinschauens. Damals mochte sie ihren Körper, und sie zeigte ihn auch gern, posierte mit offenen oder geschlossenen Kleidern oder mit losen Fesseln um die Fußknöchel, den Hals oder die Handgelenke.
    Für mich war die Zeit, die wir draußen verbrachten, ein Fest. Wir hatten die Mühsal unserer Kindheit überstanden - Eltern, Schule, ständigen Gehorsam, Schrecken -, und das hier war unser Urlaub, bevor wir den Schritt ins Erwachsenendasein taten. Wir waren immer noch Kinder, und wir verhielten uns wie Kinder. Wir jagten und kitzelten einander und zogen uns gegenseitig an den Haaren. Wir sahen einander beim Pinkeln zu, veranstalteten Spaghetti-Wettessen und Wettläufe mit Löffel und Ei, die Hose um die Knöchel. Danach brachen wir immer lachend zusammen und schliefen wieder miteinander. Wir hatten die Kindheit überstanden. Oder doch nicht?
    Hätte Ajitas Tante uns beobachtet - und ich fragte mich oft, ob sie nicht irgendwo linste; ich hatte das dumpfe Gefühl, als würde uns jemand zuschauen -, dann hätte sie gesehen, wie Ajita mit geschlossenen Augen dalag, die Lippen genussvoll geöffnet, während ich auf den Knien hockte und ihren Körper von oben bis unten mit Küssen bedeckte. Ich spielte den ganzen Tag auf ihrer Haut, bis ich glaubte, ihren

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