Das Sakrament
größte Teil derer, die noch am Leben waren, war viel schwerer verwundet. Trotzdem konnte er sich nicht ohne Schmerzen bewegen und fühlte sich doppelt so alt, als er war. Nachdem er sich dem Drängen seines Körpers länger widersetzt hatte, als die Ehre verlangte, hatte er sich einen Trank aus einigen Ewigkeitssteinen gebraut und die darauffolgende Woche in einem Zustand benebelter Gleichgültigkeit verbracht.
Die wundersamen Steine halfen auch gegen die Anfälle schwärzester Melancholie, die ihn zu plagen begonnen hatten. In jenen Augenblicken wußte er, daß er Orlandu niemals wiedersehen würde. Die Vernunft bestärkte ihn immer wieder darin, daß er das Beste für den Jungen getan hatte, als er ihn in Abbas’ Obhut zurückließ. Und doch fehlte ihm Orlandu.
Tannhäuser war bei weitem nicht der einzige, dessen Stimmung und Gedanken getrübt waren. Überall in den Überresten der Stadt traf er benommene, verstümmelte Männer, die vor sich hin murmelten, während sie im Schutt kauerten, oder ins Nichts starrten oder über die traurigen Reste ihrer Familie, ihres Heimes, ihres Lebens weinten. Die arg mitgenommenen Kirchen waren von betrübten Menschen überfüllt, und das Klagen nahm kein Ende. Die Frauen der Stadt schienen aus einem härteren Stoff gemacht zu sein. Nun, da die meisten Männer tot oder verwundet waren, arbeiteten sie weiter an der Instandsetzung der Mauern und trugen Tote in die Stadt zurück. Doch waren auch sie niedergeschlagenund hager, holten wie in Trance Proviant bei den Vorratsstellen und Wasser an den Brunnen.
Wenn Alarm geschlagen wurde, durchkämmten die Feldwebel die Ruinen, um Saumselige zur Front zurückzutreiben. Während man den gefallenen Rittern alle Ehren und Totenklagen zukommen ließ, die einem Märtyrer zustanden, lagen weniger geachtete Leichen auf den Straßen oder wurden ins Meer geworfen. Man hatte einfach keine Kraft mehr, sie alle zu begraben. Ratten schwärmten bei Tag durch die Straßen, und Geier hatten ganze Stadtbezirke übernommen und flatterten aufgeregt und krächzten, wenn man sie störte, als wäre dies nun ihr rechtmäßiges Reich und die Menschen wären nur unverschämte Eindringlinge.
Nur Bors hatte sich seine bewundernswert gute Laune erhalten. Er hatte stets eine Geschichte auf Lager, einen Witz oder einen weisen Gedanken zur Natur des Menschen und aller Dinge. Auch er machte Gebrauch von den Ewigkeitssteinen, die er wie Nüsse verschlang, wann immer er die Möglichkeit dazu hatte. Die Nachricht von diesen wundersamen Pillen verbreitete sich rasch, und Bors schlug vor, sie sollten ihre Schäfchen ins trockene bringen, solange es noch ging. Die Steine waren so begehrt und inzwischen so teuer, wie der Markt es nur zuließ. Inzwischen konnte man sie nicht einmal mehr mit Gold kaufen. Statt dessen tauschte man die Steine gegen Smaragde, Diamanten und andere Edelsteine ein, welche die Spanier und Malteser in großen Mengen von den extravaganten Kleidungsstücken und Ausrüstungen der toten Türken gestohlen hatten.
Als Carla diesen schwunghaften Handel entdeckte, drängte sie Tannhäuser, zehn Pfund Opium für Fra Lazaro zu stiften, der dieses Geschenk als ein Wunder betrachtete und für eine Türkenbeute hielt. Das Geschenk ärgerte Bors beträchtlich, aber Tannhäuser hatte vorgebracht, daß nur so ihr Vorrat nicht konfisziert werden würde. Tatsächlich hatte Carla eine Konfiszierung mit eisiger Stimme und ohne jeden Kompromiß angedroht. Bors versorgte ihre Küche stets gut mit Lebensmitteln, Branntwein und Wein. All das war nun immer leichter zu bekommen, weil die Bevölkerungstetig abnahm. So aßen die Bewohner der englischen Herberge stets gut.
Die Herberge entwickelte sich unter den fahrenden Rittern aus Italien und England, unter den Tercios und den Mitgliedern der deutschen Zunge zu einem sehr beliebten Aufenthaltsort. In den Wänden und im Dach klafften Löcher, und das Refektorium war teilweise zerstört, aber wenn auch keine allgemeine Heiterkeit herrschte, so konnte man dort doch immer eine freundliche Gesellschaft vorfinden. Tomaso brachte Gullu Cakie und seine Leute, und es wurden Pläne für Schmuggelzüge und die Umgehung des Steuereinnehmers geschmiedet. Selbst eine Handvoll von den mutigeren Mädchen der Stadt versuchte ihr Glück.
An manchen Abenden konnte man Carla und Amparo dazu überreden, ihre Instrumente hervorzuholen und zu spielen. Ihre Musik war, wie Tannhäuser vorhergesagt hatte, kostbarer als Rubine. Selbst die
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