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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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letzte lebende Hund auf der ganzen Insel. Ob das stimmte oder nicht, in der ganzen Stadt war jedenfalls kein einziges Bellen oder Jaulen mehr zu hören. Orlandu hatte fest vor, auch diesen wunderschönen weißen Hund zu töten, ehe der Morgen vorüber war.
    Beim dritten Kanonenschuß sprang der Windhund auf und verschwand so leise wie ein Gespenst in den Straßen der Stadt. Orlandu stürzte sich nach Birgu hinein, um ihn zu verfolgen. Er war so sehr darauf aus, seine Beute zu jagen, daß die Sonne schon weit über dem Horizont stand, ehe er sich an etwas erinnerte. Er blieb stehen. Drei Schüsse vom Kastell St. Angelo, das war das Signal, auf das alle mit unermeßlicher Sorge gewartet hatten. Man hatte die türkische Armada auf hoher See gesichtet. Die Horden des Islam waren an der Küste Maltas angekommen.
    Das Schlachten der Hunde hatte drei Tage gedauert. Dies war der vierte Tag. Der Großmeister La Valette hatte die Vernichtung der Tiere angeordnet. Bei der Belagerung von Rhodos hatte La Valette miterlebt, wie Menschen Ratten und Hunde aßen. Außerdem hatten die Hunde die Leichen der Gefallenen angefressen. Daher hatte La Valette beschlossen, daß auf Malta eher alle umkommensollten, ehe man solche Entgleisungen zulassen würde. Orlandu hatte auch gehört, daß La Valette von allen Lebewesen seine Jagdhunde am zärtlichsten liebte. Bevor er seinen Erlaß öffentlich verkündet hatte, hatte er seine eigenen geliebten Hunde eigenhändig mit dem Schwert getötet. Danach, sagte man, habe er bittere Tränen vergossen.
    Der Erlaß mochte einfach sein, aber seine Durchführung erwies sich als schwieriger als erwartet. Viele Menschen waren La Valettes Beispiel gefolgt und hatten ihre Hunde selbst umgebracht. Nur konnte man diese Maßnahme nicht vor den zum Tode verdammten Tieren geheimhalten. Am Abend des ersten Tages, als das Jaulen ihrer Artgenossen sie alarmiert hatte und ihre Herren sich von allen Seiten gegen sie wandten, hatten sich zahme und wilde Hunde zusammengerottet und streiften durch die Straßen und Gassen der Stadt. Da Birgu von einer Mauer umgeben war und an das Meer angrenzte, gab es für sie keine Fluchtmöglichkeit, keine Zuflucht.
    Da Hunde in dieser Hinsicht den Menschen sehr ähnlich sind, wurden diese Meuten von den unbändigsten und klügsten Tieren angeführt. Es waren viele Hunde, und der Schrecken und der Gestank der Scheiterhaufen, auf denen täglich die Kadaver verbrannt wurden, stachelte sie so auf, daß sie sehr gefährlich und immer waghalsiger wurden. Das Jagen und Töten von Hunden galt als geringe Tätigkeit und war deshalb unter der Würde der kämpfenden Truppen und Ritter. Es war ohnehin jeder, der überhaupt nur auf eigenen Füßen laufen konnte, mit Kriegsvorbereitungen beschäftigt, und Frauen konnte man diese Aufgabe nicht anvertrauen. Also hatte ein Feldwebel den Gedanken gehabt, die Wasserträgerjungen dazu einzusetzen, die man dazu rekrutiert hatte, während der Belagerung die Festungswälle zu versorgen. Orlandu, dem man einen Posten an der Bastion von Kastilien zugewiesen hatte, war einer der ersten Freiwilligen gewesen.
    Er hätte für den Orden alles getan. Wie jeder Junge hielt er die Ritter für Götter, die auf die Erde herabgestiegen waren. Man hatte ihm ein Ausbeinmesser gegeben, das durch langen Gebrauchschon sichelförmig geschliffen war und das so scharf war wie eine Rasierklinge. Dann hatte man ihm gesagt, daß er, da er ohnehin schon bald Moslems töten würde, ebensogut auch mit Hunden anfangen könnte, die vor dem Angesicht Gottes etwa auf der gleichen Stufe standen, wobei die Tiere weniger bösartig waren und nicht geradewegs zur Hölle fahren würden. Nach dieser Bemerkung überlegte Orlandu nun, ob Hunde eine Seele hatten oder nicht. Pater Guillaume, der Kaplan, der die Jungen segnete, ehe sie auf ihren Kreuzzug gingen, versicherte ihnen, das sei nicht der Fall, sie hätten genausowenig eine Seele wie etwa Schafe oder Hasen. Doch jeder einzelne Hund ging seinem Tod auf seine ganz eigene Weise entgegen, schien so sehr und von ganzem Herzen am Leben zu hängen, daß Orlandu schon beim ersten Sonnenuntergang vom Gegenteil überzeugt war.
    Jeden getöteten Hund brachte der Junge zu einem Karren beim Provence-Tor, wo der Kadaver ausgenommen wurde, so daß man mit seinen Innereien die Brunnen der Marsa vergiften konnte, sobald die Türken angekommen waren. Die Überreste wurden draußen vor den Toren auf einem grausigen Scheiterhaufen von Haar und Knochen

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