Das Sakrament
läuteten. Verwirrung und Tumult machten sich in der ganzen Bevölkerung breit. Das gemeine Volk hatte die Türken erst in einem Monat erwartet. Auf bleichen Gesichtern stand die Todesfurcht geschrieben. Viele rannten in ihre Häuser und verriegelten die Türen. Andere liefen kopflos und aufgeregt hin und her. Von überall auf derInsel eilten diejenigen, die noch nicht innerhalb der Mauern waren, nach Birgu, um dort Zuflucht zu finden. Die Bauern brachten alles Vieh mit, das Arbeit verrichten oder geschlachtet und gegessen werden konnte. Auf Eselsrücken, auf Karren und auf ihren eigenen Schultern hatten sie die letzte Ernte geladen, die sie zu früh vom Halm geschnitten hatten, und das Obst, das man aus allen Hainen gesammelt hatte. Sie brachten ihre Kinder und ihre Frauen mit, ihr Gemüse, ihre Ziegen und die kleinen kostbaren Dinge, die sie an das alte Leben und ihren früheren Stand erinnerten. Sie brachten ihre Ikonen und Gebete mit, ihren Mut und ihre Furcht. Wohin man schaute, kräuselte sich Rauch zum Himmel. Jeder Halm, der noch nicht reif zur Ernte war, aller Proviant, den man nicht mit sich tragen konnte, wurde mit Fackeln in Brand gesetzt. Sie versengten das Land, ihr eigenes Land. Sie vergifteten alle Brunnen mit den Innereien der geschlachteten Hunde, mit giftigen Kräutern und Exkrementen. Nichts ließen sie den Türken übrig. Und nun waren die Türken da.
Es schien, als stünde ganz Malta in Flammen.
Nur einmal legte Orlandu auf seiner Jagd eine Pause ein, und zwar am Hafen, wo er angefangen hatte. Dort wimmelte es nun nur so vor Betriebsamkeit. Er hatte seit der Mahlzeit am Vorabend bei der Kohlenpfanne der Wachleute weder etwas gegessen noch getrunken. Plötzlich wurde ihm übel, und die Köpfe der Pferde und Menschen begannen sich vor seinen Augen zu drehen. Würgend fiel Orlandu auf die Knie und spürte den erdigen Geruch des Maultierdungs in der Nase. Der Gestank schien ihm beinahe den Rachen zu versengen. Er preßte die Stirn auf die Pflastersteine und würgte einen Mundvoll Galle hoch. Da packten ihn zwei knochige Hände und zerrten ihn wieder auf die Füße.
Orlandu schloß die Augen und wurde zu einem umgedrehten Eimer geführt, auf den er sich setzen konnte. Etwas Feuchtes, Süßsaures wurde ihm in den Mund geschoben, und er kaute und schluckte. Sein Magen krampfte sich um das mit Wein getränkte Brot zusammen, während knochige Finger ihm mehr in den Mund stopften. So rasch, wie sie gekommen war, verging dieÜbelkeit wieder. Der Junge blinzelte und sah seinen Retter vor sich.
Die Augen des alten Mannes waren so strahlend hell wie die eines Kindes, und seine Nase war so krumm, daß sie beinahe an die Stoppeln auf seinem spitzen Kinn zu stoßen schien. Orlandu erkannte ihn sofort. Es war Omar, der alte Karagiozi . Hinter ihm stand das winzige, wackelige Theater, in dem er seinem einzigartigen Gewerbe nachging. Der Mann mit dem Schattentheater war schon seit Menschengedenken eine feste Einrichtung am Kai. Manche behaupteten, er sei noch vor den Rittern hier angekommen. Er war der älteste Mensch, den Orlandu je gesehen hatte, älter sogar als La Valette oder Luigi Broglia. Wie alle anderen Kinder und viele Seeleute hatte Orlandu sich oft an den Possen der Schattenfiguren ergötzt, die der alte Mann auf dem Gazevorhang zum Leben erweckte. Außer den Sklaven, die in Ketten schufteten, war Omar der einzige Türke auf Malta. Niemand wußte, wie er hierher gekommen oder warum er geblieben war. Wahrscheinlich wußte Omar es nicht einmal selbst mehr. Er war ein harmloser Bursche und brachte alle zum Lachen. Deswegen schien es niemandem etwas auszumachen, daß er ein Moslem war. Man hielt ihn für verrückt, weil er allein in einem Faß wohnte und das stumme Spiel seiner Papierpuppen mit Gurgeln und Grunzen begleitete, mit Lauten, wie sie kein Mensch ausstoßen würde, der bei klarem Verstand war.
»Aha! Aha!« gackerte Omar und deutete auf Orlandus Bißwunden. »Hunde sind es! Hunde!«
Auf dieses verdrehte Maltesisch folgte ein ziemlich genau imitiertes Bellen, das schließlich mit einem jammervollen Jaulen und einem zahnlosen Grinsen ausklang.
»Großmeister weiß! Weiß alles!« Omar zeigte auf den Turm des Kastells St. Angelo. »Sie tanzen nach seiner Pfeife! Türken! Römer! Dämonen! Alle! Dienen seinem Willen! Ja!«
Verwirrt nickte Orlandu, wie man es bei einem Verrückten tut.
»Hunde, Männer, Kinder, Frauen, rums!« Omar deutete mit den Händen eine gewaltige Explosion an und
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